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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
8C_67/2022  
 
 
Urteil vom 22. September 2022  
 
I. sozialrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Wirthlin, Präsident, 
Bundesrichterin Heine, Bundesrichter Abrecht, 
Gerichtsschreiber Hochuli. 
 
Verfahrensbeteiligte 
Allianz Suisse Versicherungs-Gesellschaft AG, 
Beschwerdeführerin, 
 
gegen  
 
A.________, 
vertreten durch Rechtsanwalt Leo R. Gehrer, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Unfallversicherung (Invalidenrente, Wiedererwägung, Vergleich), 
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 21. Dezember 2021 (UV 2021.3). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
 
A.a. Die am 11. Oktober 1955 geborene A.________ bezieht seit 1. November 2019 eine ordentliche Altersrente der AHV (Verfügung der Schweizerischen Ausgleichskasse [SAK] vom 7. Oktober 2019). Die Allianz Suisse Versicherungs-Gesellschaft (nachfolgend: Allianz oder Beschwerdeführerin) sprach A.________ für die dauerhaften Folgen des obligatorisch versicherten Unfalles vom 19. März 1996 eine Invalidenrente von 50 % für die Zeit vom 1. März 1998 bis 31. Oktober 2019 und von 33 % ab 1. November 2019 sowie eine Integritätsentschädigung von 15 % zu (erste Verfügung vom 21. September 2005).  
 
A.b. In Bezug auf die von A.________ nach einem - ebenfalls bei der Allianz versicherten - Unfall vom 7. Oktober 2001 geklagten Beschwerden verneinte die Allianz deren Unfalladäquanz ab 1. Juni 2003 und verzichtete auf die Rückforderung der bereits bis zum 31. Mai 2004 ausgerichteten Taggelder (zweite Verfügung vom 21. September 2005).  
 
A.c. Hinsichtlich der nach dem Ereignis vom 27. Juni 1999 aufgetretenen Beschwerden der A.________ verneinte die dafür nach UVG grundsätzlich zuständige Zürich Versicherungs-Gesellschaft mangels eines natürlichen und adäquaten Kausalzusammenhanges ihre Leistungspflicht (letztinstanzlich bestätigt mit Urteil 8C_325/2008 vom 17. Dezember 2008).  
 
A.d. Nach Kenntnisnahme von der Verfügung der SAK vom 7. Oktober 2019 zog die Allianz ihre erste Verfügung vom 21. September 2005 in Wiedererwägung und stellte die Rentenleistungen per 30. November 2019 mangels Unfallkausalität der darüber hinaus geltend gemachten Folgen des Unfalles vom 19. März 1996 ein (Verfügung vom 26. November 2019). Die Allianz wies die Einsprache der A.________ ab (Dispositiv-Ziffer 1) und sprach deren Rechtsvertreter in Bewilligung der unentgeltlichen Rechtsverbeiständung eine pauschale Entschädigung von Fr. 2'500.- nebst Spesen und Mehrwertsteuer zu (Dispositiv-Ziffern 2 und 3 des Einspracheentscheids vom 26. November 2020).  
 
B.  
Die hiergegen erhobene Beschwerde der A.________ hiess das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen mit Entscheid vom 21. Dezember 2021 teilweise gut, indem es die mit Dispositiv-Ziffer 1 des Einspracheentscheids geschützte Wiedererwägung aufhob. 
 
C.  
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragt die Allianz, der Einspracheentscheid vom 26. November 2020 sei unter Aufhebung des angefochtenen Gerichtsentscheids zu bestätigen. Eventualiter seien der angefochtene Gerichts- und der Einspracheentscheid aufzuheben und die Sache zwecks Einholung eines polydisziplinären Gutachtens und zur anschliessenden Neuverfügung über die Leistungsberechtigung ab 1. Dezember 2019 an die Beschwerdeführerin zurückzuweisen. 
 
Während die Beschwerdegegnerin auf Abweisung der Beschwerde schliesst und um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege und Verbeiständung ersucht, verzichtet das Bundesamt für Gesundheit (BAG) auf eine Vernehmlassung. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
 
1.1. Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann wegen Rechtsverletzungen gemäss den Art. 95 f. BGG erhoben werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Unter Berücksichtigung der allgemeinen Pflicht zur Begründung der Beschwerde (Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG) prüft es grundsätzlich nur die geltend gemachten Rügen, sofern die rechtlichen Mängel nicht geradezu offensichtlich sind (BGE 145 V 304 E. 1.1).  
 
1.2. Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Im Beschwerdeverfahren um die Zusprechung oder Verweigerung von Geldleistungen der Unfallversicherung besteht keine Bindung an die vorinstanzliche Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts (Art. 97 Abs. 2 i.V.m. Art. 105 Abs. 3 BGG; vgl. BGE 140 V 136 E. 1.2.1).  
 
2.  
 
2.1. Strittig ist, ob die Vorinstanz Bundesrecht verletzte, indem sie einen Wiedererwägungsgrund im Sinne von Art. 53 Abs. 2 ATSG verneinte und folglich die Dispositiv-Ziffer 1 des Einspracheentscheides vom 26. November 2020 aufhob, womit die Beschwerdeführerin an der am 26. November 2019 wiedererwägungsweise verfügten Aufhebung des Vergleichs gemäss Verfügung vom 21. September 2005 festhielt.  
 
2.2. Das kantonale Gericht hat die hierfür massgeblichen rechtlichen Grundlagen zutreffend dargelegt. Darauf wird verwiesen (Art. 109 Abs. 3 BGG).  
 
3.  
 
3.1. Die ELVIA Schweizerische Versicherungs-Gesellschaft Zürich (nachfolgend: ELVIA; heute: Allianz) erbrachte die gesetzlichen Leistungen für die Folgen des ersten Unfalles vom 19. März 1996. Den von der ELVIA mit Einspracheentscheid vom 26. April 1999 bestätigten sowie vom Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen mit Entscheid vom 27. Oktober 2000 geschützten folgenlosen Fallabschluss per Ende Februar 1998 hob das Eidgenössische Versicherungsgericht (EVG; heute: sozialrechtliche Abteilungen des Bundesgerichts) bei damaligem Aktenstand auf. Es wies die Sache zur Klärung der offenen Fragen nach dem Vorzustand und dem Erreichen des Status quo zur umfassenden polydisziplinären Begutachtung unter vollständiger Berücksichtigung der medizinischen Unterlagen an die ELVIA zurück (vgl. Urteil U 501/00 vom 29. Juni 2001 E. 3 i.f.).  
 
3.2. Nach Kenntnisnahme vom eben erwähnten Urteil erfuhr die Beschwerdeführerin, dass die Invalidenversicherung die Beschwerdegegnerin zwischenzeitlich bei der MEDAS Ostschweiz hatte begutachten lassen, weshalb sie im März 2002 Einsicht in dieses Gutachten und in die gesamte Aktenlage der Invalidenversicherung nahm. In der Folge einigte sich die Beschwerdeführerin mit der Beschwerdegegnerin darauf, dass sich Letztere ergänzend zum MEDAS-Gutachten in Bezug auf die Restfolgen aller drei Unfälle bei Prof. Dr. med. B.________ in C.________ begutachten lasse. Weil die Beschwerdeführerin das Gutachten des Prof. Dr. med. B.________ vom 22. Mai 2003 sodann nicht für beweiswertig hielt, vereinbarte sie mit der Beschwerdegegnerin, Prof. Dr. med. B.________ Ergänzungsfragen zu stellen, welche Letzterer am 19. August 2004 beantwortete. Ab Ende September 2004 suchten die Parteien nach einer vergleichsweisen Einigung über die Leistungspflicht der Beschwerdeführerin für die Restfolgen der beiden Unfälle vom 19. März 1996 und 7. Oktober 2001. Die Beschwerdegegnerin nahm schliesslich am 6. Juli 2005 den Vergleichsvorschlag der Beschwerdeführerin vom 30. Juni 2005 an. Das Ergebnis bestätigte die Beschwerdeführerin formell mit den beiden Verfügungen vom 21. September 2005.  
 
3.3.  
 
3.3.1. Nach dem Gesagten kann entgegen der Beschwerdeführerin von einer klaren Verletzung des Untersuchungsgrundsatzes (Art. 43 Abs. 1 ATSG) keine Rede sein. Obwohl die notwendigen Abklärungen des Sachverhalts schon bei vergleichsweiser Rentenzusprache von Amtes wegen der Beschwerdeführerin oblagen (vgl. BGE 138 V 218 E. 6; 115 V 133 E. 8a und b; je mit Hinweisen), beruft sie sich zur Begründung der ursprünglichen zweifellosen Unrichtigkeit des Vergleichs auf ihre eigenen Abklärungsversäumnisse (vgl. dazu bereits das Urteil 8C_643/2018 vom 4. Juli 2019 E. 5.3 mit Hinweisen). Mit Blick auf die Aktenlage steht jedoch fest, dass die Beschwerdeführerin nach umfangreichen Abklärungsbemühungen und längeren Vergleichsverhandlungen bei Unterbreitung ihres Vergleichsvorschlages die verbleibenden Unsicherheiten basierend auf der medizinisch nicht restlos überzeugenden Beweislage bewusst in Kauf nahm. Ist von einer restriktiveren Zulässigkeit der Wiedererwägung von Vergleichen gegenüber von Verfügungen auszugehen (MIRIAM LENDFERS, Der Vergleich im Sozialversicherungrecht, in: Kieser/Lendfers [Hrsg.], Jahrbuch zum Sozialversicherungsrecht 2013, S. 209; vgl. auch Urteil 8C_86/2020 vom 14. Mai 2020 E. 4.3 mit Hinweisen), kann hier mit Blick auf die gegebenen Verhältnisse die Vermeidung eines weiteren Abklärungsaufwands unter vergleichsweiser Zusprache der Leistungen gemäss erster Verfügung vom 21. September 2005) jedenfalls nicht als zweifellos unrichtig qualifiziert werden (vgl. Urteil 8C_727/2011 vom 1. März 2012 E. 3.3.2).  
 
3.3.2. Die Vergleichsverhandlungen der Beschwerdeführerin beruhen ausdrücklich auf der schon damals praxisgemäss anerkannten medizinischen Erfahrungstatsache, dass bei vorgeschädigten Wirbelsäulen ein Unfallereignis nur ausnahmsweise unter besonderen Voraussetzungen als eigentliche Ursache einer Diskushernie in Betracht fällt (Urteil U 107/04 vom 25. November 2004 E. 4.1). Offensichtlich unbegründet ist der Standpunkt der Beschwerdeführerin, wonach bereits bei Vergleichsabschluss bzw. Erlass der Verfügung vom 21. September 2005 (vgl. zur Bedeutung der in diesem Zeitpunkt herrschenden Rechtslage: BGE 138 V 147 E. 2.1 i.f. mit Hinweisen; vgl. auch Urteil 8C_363/2021 vom 25. November 2021 E. 6.1) praxisgemäss kein Ermessensspielraum für Vergleichsverhandlungen bestanden habe. Und dies, weil angeblich schon damals nach der von der Rechtsprechung anerkannten medizinischen Erfahrungstatsache spätestens ein Jahr nach Aktivierung eines stummen Vorzustandes an der Wirbelsäule auf das Erreichen des Status quo sine hätte geschlossen werden müssen. Dass dies offensichtlich - jedenfalls für den damals massgebenden Zeitpunkt - nicht zutrifft, folgt bereits aus dem Urteil U 287/04 vom 17. März 2005 E. 8.1 (RKUV 2005 Nr. U 550 S. 242). Auch damals konnte sich das EVG dem von der - nota bene identischen - Beschwerdeführerin angeführten Verweis auf diese Erfahrungstatsache nicht anschliessen. Stattdessen bejahte es den natürlichen Kausalzusammenhang und damit die Fortdauer der Leistungspflicht der Beschwerdeführerin. Allein aus diesem - die Beschwerdeführerin betreffenden - Präjudiz erhellt, dass nur wenige Monate vor dem am 21. September 2005 verfügungsweise bestätigten Vergleichsabschluss auf der Grundlage der damaligen Rechtsprechung nicht nur Ermessensspielraum, sondern mit Blick auf das Prozessrisiko auch ein erhebliches Interesse seitens der Beschwerdeführerin daran bestand, über ihre allenfalls fortbestehende Leistungspflicht angesichts der unsicheren Rechtslage eine vergleichsweise Regelung zu suchen. Dies gilt umso mehr, als die Beschwerdeführerin mit dem Vergleich eine abschliessende Vereinbarung über die strittigen Folgen von zwei versicherten Unfällen (Sachverhalt lit. A.a und A.b) anstrebte.  
 
3.4. Die Vorinstanz erkannte nach dem Gesagten zutreffend, dass die Voraussetzungen der Wiedererwägung in Bezug auf die erste Verfügung vom 21. September 2005 entgegen der Beschwerdeführerin nicht erfüllt waren. Was Letztere im Übrigen gegen den angefochtenen Entscheid vorbringt, ändert nichts daran. Einen Revisionsgrund im Sinne von Art. 17 Abs. 1 ATSG macht sie zu Recht nicht geltend.  
 
4.  
Die Frage, ob die bei der Revision von Rentenleistungen nach UVG massgebende Altersgrenze von Art. 22 UVG in analoger Anwendung auch bei der wiedererwägungsweisen Anpassung von Rentenverfügungen beachtlich ist, kann hier demnach mit der Vorinstanz offenbleiben. 
 
5.  
Die offensichtlich unbegründete Beschwerde wird im vereinfachten Verfahren nach Art. 109 Abs. 2 lit. a BGG mit summarischer Begründung und unter Verweis auf den angefochtenen Entscheid (Art. 102 Abs. 1 und Art. 109 Abs. 3 BGG) erledigt. 
 
6.  
Die unterliegende Beschwerdeführerin trägt die Gerichtskosten (Art. 66 Abs. 1 BGG). S ie hat der Beschwerdegegnerin überdies eine Parteientschädigung auszurichten (Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG). Damit wird das Gesuch der Beschwerdegegnerin um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege gegenstandslos. 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.  
Die Beschwerde wird abgewiesen. 
 
2.  
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt. 
 
3.  
Die Beschwerdeführerin hat die Beschwerdegegnerin für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 2800.- zu entschädigen. 
 
4.  
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen und dem Bundesamt für Gesundheit schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 22. September 2022 
 
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Wirthlin 
 
Der Gerichtsschreiber: Hochuli