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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
1B_480/2022  
 
 
Urteil vom 29. September 2022  
 
I. öffentlich-rechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Chaix, präsidierendes Mitglied, 
Bundesrichter Müller, Merz, 
Gerichtsschreiberin Kern. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
Beschwerdeführer, 
 
gegen  
 
Staatsanwaltschaft des Kantons Solothurn, Franziskanerhof, Barfüssergasse 28, 4500 Solothurn. 
 
Gegenstand 
Strafverfahren; Gesuch um Haftentlassung, 
 
Beschwerde gegen die Verfügung des Obergerichts des Kantons Solothurn, Strafkammer, Vorsitzender, 
vom 2. September 2022 (STBER.2020.54). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
Das Amtsgericht von Olten-Gösgen sprach A.________ mit Urteil vom 11. Dezember 2019 wegen mehrfachen sexuellen Handlungen mit Kindern, mehrfacher harter Pornografie und mehrfachen Vergehen gegen das Betäubungsmittelgesetz schuldig. Die Strafkammer des Obergerichts des Kantons Solothurn sprach A.________ im Berufungsverfahren mit Urteil vom 12. März 2021 zusätzlich der sexuellen Handlungen mit Kindern in einem weiteren Fall sowie weiteren (mehrfachen) Widerhandlungen gegen das Betäubungsmittelgesetz schuldig und verurteilte ihn insgesamt zu einer Freiheitsstrafe von 7 ½ Jahren. Zudem wurde er für 12 Jahre des Landes verwiesen. Gegen dieses Urteil erhoben A.________ sowie zwei Privatklägerinnen die zurzeit beim Bundesgericht hängigen Beschwerden in Strafsachen 6B_803/2021, 6B_838/2021 sowie 6B_839/2021. 
A.________ befindet sich seit dem 22. Februar 2017 in Haft. 
 
B.  
Am 17. August 2022 stellte A.________ein Haftentlassungsgesuch. Die Strafkammer des Obergerichts des Kantons Solothurn wies dieses mit Verfügung vom 2. September 2022 ab und ordnete an, A.________ verbleibe in Sicherheitshaft, wobei sie weiterhin von Flucht- und Wiederholungsgefahr ausging. 
 
C.  
Mit Beschwerde in Strafsachen vom 11. September 2022 beantragt A.________ vor Bundesgericht sinngemäss, die Verfügung der Strafkammer des Obergerichts des Kantons Solothurn vom 2. September 2022 aufzuheben und ihn sofort aus der Haft zu entlassen. Ferner sei ihm die unentgeltliche Rechtspflege zu gewähren. 
Die Staatsanwaltschaft hat auf kostenfällige Abweisung der Beschwerde geschlossen. Die Vorinstanz hat ebenfalls die Abweisung der Beschwerde beantragt und im Übrigen auf Vernehmlassung verzichtet. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
 
1.1. Angefochten ist ein kantonal letztinstanzlicher Entscheid betreffend Haftentlassung. Dagegen steht grundsätzlich die Beschwerde in Strafsachen an das Bundesgericht gemäss Art. 78 ff. BGG offen. Der Beschwerdeführer hat am vorinstanzlichen Verfahren teilgenommen und befindet sich in Haft. Er hat folglich ein aktuelles, rechtlich geschütztes Interesse an der Aufhebung des angefochtenen Entscheids und ist somit gemäss Art. 81 Abs. 1 lit. a und b Ziff. 1 BGG zur Beschwerde berechtigt. Da auch die übrigen Sachurteilsvoraussetzungen erfüllt sind, ist auf die Beschwerde grundsätzlich einzutreten.  
 
1.2. Der Beschwerdeführer verweist in seiner Beschwerdeschrift auf "seine zuvor gemachten Ausführungen", wobei unklar ist, auf welche seiner Rechtsschriften im Einzelnen er sich dabei bezieht. Nach der Rechtsprechung muss die Begründung der Beschwerde ohnehin in dieser selber enthalten sein; Verweise auf andere Rechtsschriften oder Akten reichen grundsätzlich nicht aus (vgl. Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG; BGE 143 II 283 E. 1.2.3; 140 III 155 E. 2 mit Hinweisen). Der globale Verweis auf frühere Ausführungen ist somit unzulässig; darauf ist nicht weiter einzugehen.  
 
2.  
Untersuchungs- oder Sicherheitshaft sind gemäss Art. 221 Abs. 1 StPO unter anderem zulässig, wenn die beschuldigte Person eines Verbrechens oder Vergehens dringend verdächtig ist (sog. allgemeiner Haftgrund) und ernsthaft zu befürchten ist, dass sie sich durch Flucht dem Strafverfahren oder der zu erwartenden Sanktion entzieht (sog. Fluchtgefahr; lit. a) oder dass sie durch schwere Verbrechen oder Vergehen die Sicherheit anderer erheblich gefährdet, nachdem sie bereits früher gleichartige Straftaten verübt hat (sog. Wiederholungsgefahr; lit. c). Überdies muss die Haft verhältnismässig sein (vgl. Art. 5 Abs. 2 und Art. 36 Abs. 3 BV, Art. 197 Abs. 1 lit. c und d sowie Art. 212 Abs. 2 lit. c StPO). Das zuständige Gericht ordnet an Stelle der Untersuchungs- oder Sicherheitshaft eine oder mehrere mildere Massnahmen an, wenn sie den gleichen Zweck wie die Haft erfüllen (Art. 237 Abs. 1 StPO). 
 
3.  
Die Vorinstanz hat den dringenden Tatverdacht sowie die besonderen Haftgründe der Flucht- und Wiederholungsgefahr bejaht. Zudem hält die Vorinstanz die Haft nach wie vor für verhältnismässig, da keine geeigneten milderen Massnahmen ersichtlich seien und keine Überhaft drohe. 
Der Beschwerdeführer äussert sich nicht zum dringenden Tatverdacht. Sinngemäss wendet er sich gegen die Annahme von Fluchtgefahr - ohne jedoch auf die von der Vorinstanz ebenfalls bejahte Wiederholungsgefahr einzugehen - und rügt eine Verletzung des Verhältnismässigkeitsprinzips wegen drohender Überhaft sowie "Haftschäden". 
 
4.  
 
4.1. Zu den Haftgründen macht der Beschwerdeführer geltend, er sei "EU-Bürger", seine Eltern würden in der Schweiz leben und er verfüge über keine Kontakte mehr zu Deutschland oder Polen. Es dürfe unter diesen Umständen nicht ohne Weiteres von Fluchtgefahr ausgegangen werden.  
 
4.2. Soweit der Beschwerdeführer seiner Begründungspflicht überhaupt nachkommt (vgl. Art. 42 Abs. 2 BGG), kann seiner Argumentation nicht gefolgt werden. Die Vorinstanz hat das Vorliegen des dringenden Tatverdachts nach erst- und zweitinstanzlicher Verurteilung sowie die Bejahung von besonderen Haftgründen ausführlich und nachvollziehbar begründet. So ist nicht zu beanstanden, dass diese wegen Fehlens jeglicher Perspektive des Beschwerdeführers in der Schweiz und der weiterhin noch ausstehenden mehrjährigen Haftstrafe Fluchtgefahr bejaht hat. Nach den bisherigen Ausführungen des Beschwerdeführers hat er sich denn auch mit der Landesverweisung aus der Schweiz abgefunden und geht somit selber von einem künftigen Leben im Ausland aus. Weiter hat die Vorinstanz aufgrund des dem Beschwerdeführer attestierten hohen Rückfallrisikos zu Recht Wiederholungsgefahr angenommen. Auf die entsprechenden Erwägungen (vgl. E. 3.1 bis 3.3 der angefochtenen Verfügung, S. 7 f.) kann in Anwendung von Art. 109 Abs. 3 BGG vollumfänglich verwiesen werden.  
 
5.  
 
5.1. Zur Verhältnismässigkeit der Haft bringt der Beschwerdeführer vor, am 29. September 2022 werde er bereits zwei Drittel der am 12. März 2021 vom Obergericht des Kantons Solothurn über ihn verhängten Freiheitsstrafe von 7 ½ Jahren verbüsst haben. Sinngemäss macht er damit geltend, dass ihm voraussichtlich die bedingte Entlassung nach zwei Dritteln der Strafe gewährt werde. Im Falle einer Gutheissung seiner vor Bundesgericht zurzeit hängigen Beschwerde bestehe zudem die Möglichkeit einer Reduzierung der über ihn verhängten Sanktion. Aufgrund dieser Umstände drohe Überhaft. Er sei daher sofort aus der Haft zu entlassen.  
 
5.2. Nach der Vorinstanz rückt die bereits ausgestandene Haft noch nicht in zeitliche Nähe der verhängten Freiheitsstrafe von 7 ½ Jahren. Zudem könne aufgrund der Ausführungen in der Verfügung vom 1. Juli 2022 des Straf- und Massnahmenvollzugs und des hohen Rückfallrisikos des Beschwerdeführers nicht mit grosser Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden, dieser werde bedingt entlassen.  
 
5.3. Gemäss Art. 31 Abs. 3 BV und Art. 5 Ziff. 3 EMRK hat eine in strafprozessualer Haft gehaltene Person Anspruch darauf, innerhalb einer angemessenen Frist richterlich abgeurteilt oder während des Strafverfahrens aus der Haft entlassen zu werden. Eine übermässige Haftdauer stellt eine unverhältnismässige Beschränkung dieses Grundrechts dar. Nach Art. 212 Abs. 3 StPO dürfen deshalb Untersuchungs- und Sicherheitshaft nicht länger dauern als die zu erwartende Freiheitsstrafe, wobei nach ständiger Praxis bereits zu vermeiden ist, dass die Haftdauer in grosse Nähe zur zu erwartenden Freiheitsstrafe rückt (BGE 145 IV 179 E. 3.1; 143 IV 168 E. 5.1 mit Hinweisen).  
Liegt bereits ein richterlicher Entscheid über das Strafmass vor, stellt dieser ein wichtiges Indiz für die mutmassliche Dauer der tatsächlich zu verbüssenden Strafe dar (BGE 145 IV 179 E. 3.4; 143 IV 160 E. 4.1; je mit Hinweisen). Nach der Rechtsprechung ist zudem bei der Prüfung der zulässigen Haftdauer der Umstand, dass die in Aussicht stehende Freiheitsstrafe bedingt oder teilbedingt ausgesprochen werden kann, wie auch die Möglichkeit einer bedingten Entlassung aus dem Strafvollzug im Grundsatz nicht zu berücksichtigen (BGE 145 IV 179 E. 3.4; 143 IV 168 E. 5.1; 160 E. 4.2; je mit Hinweisen). 
Vom Grundsatz der Nichtberücksichtigung der Möglichkeit einer bedingten Entlassung ist nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung indes dann eine Ausnahme zu machen, wenn es die konkreten Umstände des Einzelfalls gebieten, insbesondere wenn absehbar ist, dass eine bedingte Entlassung mit grosser Wahrscheinlichkeit erfolgen dürfte (BGE 143 IV 160 E. 4.2; Urteil 1B_279/2020 vom 23. Juni 2020 E. 3.1 mit Hinweis). 
Die Gewährung der bedingten Entlassung nach zwei Dritteln der Strafe hängt vom Verhalten der gefangenen Person im Strafvollzug und von der Prognose hinsichtlich ihres zukünftigen Verhaltens in Freiheit ab (Art. 86 Abs. 1 StGB). Wenn die gefangene Person bereits zwei Drittel der erst- oder zweitinstanzlich verhängten Freiheitsstrafe in Untersuchungs- bzw. Sicherheitshaft verbracht hat und die Strafe im Rechtsmittelverfahren noch verkürzt, nicht aber erhöht werden kann, hat das Haftgericht eine Prognose über die Anwendbarkeit von Art. 86 Abs. 1 StGB anzustellen. Fällt diese positiv aus, muss dem Haftentlassungsgesuch stattgegeben werden, zumal die bedingte Entlassung aus dem Strafvollzug die Regel darstellt, von der nur aus guten Gründen abgewichen werden darf (vgl. BGE 133 IV 201 E. 2.2 f.; Urteil 1B_186/2022 vom 9. Mai 2022 E. 4.1 mit Hinweisen). 
 
5.4. Der Beschwerdeführer verkennt, dass in den Beschwerdeverfahren 6B_838/2021 und 6B_839/2021 die jeweiligen Privatklägerinnen beantragen, er sei zusätzlich zu den bereits ergangenen Schuldsprüchen auch wegen (mehrfacher) Vergewaltigung zu verurteilen und angemessen zu bestrafen. Art. 190 Abs. 1 StGB sieht für Vergewaltigung einen Strafrahmen von einem Jahr bis zu zehn Jahren Freiheitsstrafe vor, wobei das Höchstmass dieser Strafe nach den Grundsätzen von Art. 49 Abs. 1 StGB noch erhöht werden könnte. Damit ist zurzeit jedenfalls theoretisch nicht nur eine Strafminderung, sondern auch eine Erhöhung der mit Urteil vom 12. März 2021 vom Obergericht des Kantons Solothurn verhängten Freiheitsstrafe von 7 ½ Jahren möglich.  
Darüber hinaus durfte die Vorinstanz aufgrund der Vorakten und insbesondere der Verfügung des Amts für Justizvollzug vom 1. Juli 2022, mit welcher die ambulante Behandlung des Beschwerdeführers wegen Aussichtslosigkeit aufgehoben wurde, auch die sehr hohe Rückfallgefahr des Beschwerdeführers berücksichtigen. Wie die Vorinstanz zutreffend festhielt, kann aufgrund der negativen Prognose des zukünftigen Verhaltens des Beschwerdeführers in Freiheit nicht davon ausgegangen werden, dass dieser "mit grosser Wahrscheinlichkeit" bedingt entlassen wird. Dem Beschwerdeführer droht somit noch keine Überhaft. 
 
5.5. Der Beschwerdeführer ersucht schliesslich noch um "Stellungnahme zu den Haftschäden". Dabei scheint er sich auf seine Eingabe vom 14. August 2022 zu beziehen, worin er geltend machte, er habe seit längerer Zeit "deutliche Beeinträchtigungen der Denkprozesse (Aufmerksamkeit) und Wahrnehmung" bemerkt.  
Abgesehen davon, dass der Beschwerdeführer seine angeblichen "Haftschäden" weder in seiner Beschwerdeschrift noch in seiner Eingabe vom 14. August 2022 näher begründet (vgl. Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG), hätte eine Erkrankung nach bundesgerichtlicher Rechtsprechung für sich alleine ohnehin noch keine Haftentlassung zur Folge. Diese wäre nur angezeigt, wenn die Auswirkungen der Haft auf den Gesundheitszustand des Beschwerdeführers in keinem vernünftigen Verhältnis zum Haftzweck stehen würde (Art. 197 Abs. 1 lit. d StPO, Art. 10 BV; vgl. Urteile 1B_90/2021 vom 18. März 2021 E. 3.2; 1B_220/2020 vom 26. Mai 2020 E. 5.3; je mit Hinweisen), was der Beschwerdeführer vorliegend nicht behauptet. Soweit er mit seinem Vorbringen andere Forderungen erheben wollte, bilden diese nicht Gegenstand des vorliegenden Haftentlassungsverfahrens. 
 
5.6. Die Haft erweist sich somit weiterhin als verhältnismässig.  
 
6.  
Nach dem Dargelegten ist die Beschwerde abzuweisen, soweit darauf eingetreten werden kann. 
Bei diesem Ausgang des Verfahrens wird der unterliegende Beschwerdeführer grundsätzlich kostenpflichtig. Aufgrund der konkreten Umständen rechtfertigt es sich indessen, ausnahmsweise auf die Erhebung von Kosten zu verzichten (Art. 66 Abs. 1 BGG). Damit wird das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege gegenstandslos. 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.  
Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist. 
 
2.  
Es werden keine Gerichtskosten erhoben. 
 
3.  
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, der Staatsanwaltschaft des Kantons Solothurn und dem Vorsitzenden der Strafkammer des Obergerichts des Kantons Solothurn schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Lausanne, 29. September 2022 
 
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Das präsidierende Mitglied: Chaix 
 
Die Gerichtsschreiberin: Kern