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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
9C_691/2022  
 
 
Urteil vom 7. September 2023  
 
III. öffentlich-rechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Parrino, Präsident, 
Bundesrichter Beusch, Bundesrichterin Scherrer Reber, 
Gerichtsschreiber Businger. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________ Ltd, 
vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Thomas Meister, 
Beschwerdeführerin, 
 
gegen  
 
Eidgenössische Steuerverwaltung, Hauptabteilung Mehrwertsteuer, Schwarztorstrasse 50, 3003 Bern. 
 
Gegenstand 
Mehrwertsteuer, Steuerperioden 2012 bis 2013, 
 
Beschwerde gegen das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts 
vom 27. Oktober 2022 (A-1356/2022). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
Die A.________ Ltd (nachfolgend: Gesellschaft) mit Sitz in U.________ ist seit 1. Januar 2009 im Register der mehrwertsteuerpflichtigen Personen bei der Eidgenössischen Steuerverwaltung (ESTV) eingetragen. Die Gesellschaft führt ein Multi-Family-Office und erbringt diverse Finanzdienstleistungen. Im hier relevanten Zeitraum war gemäss Handelsregisterauszug u.a. B.________ einzelzeichnungsberechtigt. 
 
B.  
Am 1./2. Dezember 2014 nahm die ESTV eine Kontrolle bei der Gesellschaft vor. Sie eröffnete am 17. August 2016 eine Strafuntersuchung u.a. gegen B.________, was diesem und der Gesellschaft am 14. Oktober 2016 mitgeteilt wurde. B.________ wurde am 19. Dezember 2016 einvernommen. Die Strafuntersuchung wurde am 9. November 2021 eingestellt, nachdem am 18. August 2021 die Verfolgungsverjährung eingetreten war. 
Am 30. März 2021 stellte die ESTV der Gesellschaft das Kontrollergebnis betreffend die Steuerperioden 2011 bis 2013 zu; sie erhob eine Nachforderung von Fr. 275'392.-, weil die Gesellschaft Entgelte nicht versteuert habe. Dies bestätigte sie mit Verfügung vom 2. November 2021, wobei sich die Steuernachforderung auf Fr. 117'202.- (2011), Fr. 70'820.- (2012) und Fr. 87'370.- (2013) belief. Die dagegen erhobene Einsprache hiess die ESTV am 17. Februar 2022 hinsichtlich der Steuerperiode 2011 wegen Eintritts der absoluten Festsetzungsverjährung gut; im Übrigen bestätigte sie die Steuernachforderung. Das daraufhin angerufene Bundesverwaltungsgericht wies die Beschwerde der Gesellschaft am 27. Oktober 2022 ab. 
 
C.  
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten vom 2. Dezember 2022 beantragt die Gesellschaft dem Bundesgericht, das angefochtene Urteil sei infolge Eintritts der relativen Verjährung aufzuheben, unter Kosten- und Entschädigungsfolgen zu Lasten der ESTV. 
Die ESTV schliesst auf Gutheissung der Beschwerde, soweit sie die Steuerperiode 2012 betrifft, und im Übrigen auf Abweisung. Die Gesellschaft repliziert. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
Angefochten ist ein Endentscheid des Bundesverwaltungsgerichts in einer Angelegenheit des öffentlichen Rechts (Art. 82 lit. a, Art. 83 e contrario, Art. 86 Abs. 1 lit. a und Art. 90 BGG). Auf die form- und fristgerechte Eingabe (Art. 42 und Art. 100 Abs. 1 BGG) der legitimierten Beschwerdeführerin (Art. 89 Abs. 1 BGG) ist einzutreten. 
 
2.  
Mit der Beschwerde kann namentlich die Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG). Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG), wobei es - unter Berücksichtigung der allgemeinen Rüge- und Begründungspflicht (Art. 42 Abs. 2 BGG) - grundsätzlich nur die geltend gemachten Vorbringen prüft, sofern allfällige weitere rechtliche Mängel nicht geradezu offensichtlich sind (BGE 138 I 274 E. 1.6). Es ist weder an die in der Beschwerde vorgebrachten Argumente noch an die Erwägungen der Vorinstanz gebunden; es kann die Beschwerde aus einem anderen als dem angerufenen Grund gutheissen und es kann eine Beschwerde mit einer von der Argumentation der Vorinstanz abweichenden Begründung abweisen (Motivsubstitution; BGE 141 V 234 E. 1; Urteil 2C_353/2022 vom 5. Januar 2023 E. 2.1). 
 
3.  
Die Beschwerdeführerin bringt ausschliesslich vor, das Recht zur Festsetzung der Steuerforderung sei verjährt. 
 
3.1. Die Festsetzungsverjährung wird in Art. 42 MWSTG (SR 641.20) geregelt. Danach verjährt das Recht, eine Steuerforderung festzusetzen, fünf Jahre nach Ablauf der Steuerperiode, in der die Steuerforderung entstanden ist (Abs. 1). Die Verjährung kann unterbrochen werden (Abs. 2); die Verjährungsfrist beginnt in der Folge neu zu laufen und beträgt - wurde die Verjährung von der ESTV oder einer Rechtsmittelinstanz unterbrochen - zwei Jahre (Abs. 3). Die Verjährung steht still, solange für die entsprechende Steuerperiode ein Steuerstrafverfahren nach diesem Gesetz durchgeführt wird und der zahlungspflichtigen Person dies mitgeteilt worden ist (Abs. 4). Das Recht, die Steuerforderung festzusetzen, verjährt in jedem Fall zehn Jahre nach Ablauf der Steuerperiode, in der die Steuerforderung entstanden ist (Abs. 6).  
 
 
3.2. Bezüglich der Steuerperiode 2012 begann die Verjährungsfrist am 1. Januar 2013 zu laufen; die absolute Festsetzungsverjährung nach Art. 42 Abs. 6 MWSTG trat folglich am 1. Januar 2023 ein. Insoweit erweist sich die Beschwerde als begründet. Dagegen ist hinsichtlich der Steuerperiode 2013 das Recht, die Steuerforderung festzusetzen, noch nicht absolut verjährt. Zu prüfen ist daher, ob die relative Festsetzungsverjährung eingetreten ist, wie die Beschwerdeführerin behauptet.  
 
3.3. Die relative Verjährungsfrist für die Steuerperiode 2013 begann am 1. Februar 2014 zu laufen und wurde mit der Kontrollankündigung vom 5. November 2014 unterbrochen (Art. 42 Abs. 2 MWSTG). In der Folge begann die Frist neu zu laufen und betrug noch zwei Jahre (Art. 42 Abs. 3 MWSTG). Die nächste Unterbrechungshandlung nahm die ESTV mit der Gewährung des rechtlichen Gehörs vom 30. März 2021 und damit über sechs Jahre später vor. Der Eintritt der relativen Festsetzungsverjährung hängt folglich davon ab, ob das Strafverfahren gegen B.________ als Organ der Beschwerdeführerin zum Stillstand der Verjährung nach Art. 42 Abs. 4 MWSTG geführt hat.  
 
3.4. Die Beschwerdeführerin bringt vor, sie habe entgegen den vorinstanzlichen Feststellungen zusammen mit ihrem Organ erfolglos versucht, das Strafverfahren voranzutreiben. Das Steuerstrafverfahren sei einzig aus dem sachfremden Grund des Verjährungsstillstandes pendent gehalten worden. Dies widerspreche der Unschuldsvermutung und des Anspruchs des Beschuldigten auf einen Freispruch. Weil das Strafverfahren aus treuwidrigen Gründen nicht beendet worden sei, könne sich die ESTV nicht auf den Stillstand der Verjährung berufen.  
Die Vorinstanz hat offengelassen, ob sich der Umstand, dass ein Strafverfahren nicht innert angemessener Frist fortgeführt werde, überhaupt auf den Eintritt der Festsetzungsverjährung auswirken könne. Sie erwog, es erscheine zwar unbefriedigend, dass die ESTV das Strafverfahren nicht rascher vorangetrieben habe; allerdings sei nicht aktenkundig, dass die Beschwerdeführerin versucht hätte, das Strafverfahren voranzutreiben. Dazu sei sie zwar nicht verpflichtet gewesen; sie könne jedoch nicht vorbringen, dieses sei absichtlich verzögert worden. Damit könne der ESTV kein treuwidriges Verhalten vorgeworfen werden (vgl. E. 2.4 des angefochtenen Urteils). 
 
 
3.5.  
 
3.5.1. Der Stillstand der relativen Festsetzungsverjährung während des Steuerstrafverfahrens nach Art. 42 Abs. 4 MWSTG wurde in der parlamentarischen Beratung zum neuen Mehrwertsteuergesetz eingefügt (AB 2009 N 480 ff.). Das Steuerstrafverfahren soll aus rechtsstaatlichen Gründen nicht mehr vom Veranlagungsverfahren abhängig sein bzw. idealerweise vor diesem durchgeführt werden (vgl. Art. 103 Abs. 1 und Art. 104 Abs. 3 MWSTG; CAMENZIND/HONAUER/VALLENDER/JUNG/PROBST, Handbuch zum Mehrwertsteuergesetz, 3. Aufl. 2012, S. 749 Rz. 2058; DIEGO CLAVADETSCHER/SONJA BOSSART MEIER, in: Felix Geiger/Regine Schluckebier [Hrsg.], MWSTG, Kommentar, 2. Aufl. 2019, N. 13 zu Art. 103 MWSTG; RENÉ MATTEOTTI, Der Anspruch der Beteiligten auf ein faires Mehrwertsteuer-Strafverfahren, in: Jusletter 11. Januar 2021, Rz. 8 ff.). Deshalb soll die relative Festsetzungsverjährung nicht eintreten, solange das Steuerstrafverfahren pendent ist.  
 
3.5.2. Diese gesetzgeberische Intention würde vereitelt, wenn Mängel im Steuerstrafverfahren einen Einfluss auf den Stillstand der Verjährung hätten. Die ESTV hätte so erst nach Abschluss des Strafverfahrens bzw. im (anschliessenden) Veranlagungsverfahren Gewissheit, ob das Steuerstrafverfahren zum Stillstand der Verjährung geführt hat. Sie wäre damit faktisch gezwungen, die Verjährung sicherheitshalber trotz laufendem Strafverfahren jeweils nach Art. 42 Abs. 2 MWSTG zu unterbrechen, womit die Regelung von Art. 42 Abs. 4 MWSTG sinn- und zwecklos würde. Die ESTV muss sich darauf verlassen können, dass die Festsetzungsverjährung während des Steuerstrafverfahrens still steht. Entsprechend knüpft Art. 42 Abs. 4 MWSTG bloss an die Hängigkeit des Steuerstrafverfahrens an und verlangt lediglich, dass die zahlungspflichtige Person darüber informiert wurde (Art. 104 Abs. 4 MWSTG).  
Folglich hängt der Stillstand der Verjährung während des Steuerstrafverfahrens nicht davon ab, ob das Strafverfahren mit rechtlichen Mängeln behaftet ist. Die Situation präsentiert sich damit analog zur Veranlagungsverjährung bei den direkten Steuern, wo die Unterbrechung der Verjährung nicht von der Rechtmässigkeit der betreffenden Veranlagungshandlung abhängt und gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung selbst eine nichtige und absolut unwirksame Veranlagungshandlung zur Unterbrechung der Verjährung führt (BGE 137 I 273 E. 3.4.3). 
 
 
3.5.3. Die Steuer (justiz) behörden haben sich im Veranlagungsverfahren in Bezug auf den Stillstand der Verjährung somit lediglich zu vergewissern, ob für die entsprechende Steuerperiode ein Steuerstrafverfahren durchgeführt und dies der zahlungspflichtigen Person mitgeteilt wurde. Sie haben nicht zu prüfen, ob das Steuerstrafverfahren im Einklang mit dem Grundsatz von Treu und Glauben, der Unschuldsvermutung, dem Beschleunigungsgebot und anderen prozessualen Garantien durchgeführt wurde; entsprechende Mängel sind ausschliesslich im Strafverfahren geltend zu machen bzw. zu prüfen.  
In dieser Hinsicht ist anzumerken, dass im vorliegenden Fall nicht ersichtlich ist, dass die Beschwerdeführerin bzw. ihr Organ im Steuerstrafverfahren die Rüge erhoben hätten, das Verfahren werde treuwidrig bzw. rechtsmissbräuchlich nur für den Stillstand der Verjährung pendent gehalten. Die Beschwerdeführerin verweist lediglich darauf, dass sie sich im Strafverfahren mehrmals nach dem Stand des Verfahrens erkundigt habe; sie hat sich allerdings letztmals Ende Mai 2017 in dieser Sache an die ESTV gewandt und danach ebenfalls jahrelang zugewartet, ohne etwa eine Rechtsverzögerung geltend zu machen oder auf den Abschluss des Verfahrens zu drängen. Folglich hat die Vorinstanz den Sachverhalt diesbezüglich nicht offensichtlich unrichtig festgestellt. 
 
3.5.4. Entgegen der Auffassung der Beschwerdeführerin kann auch keine Rede davon sein, der Regelung von Art. 42 Abs. 4 MWSTG liege ein Missbrauchspotential zugrunde. Die ESTV kann die relative Festsetzungsverjährung nach Art. 42 Abs. 2 MWSTG mehrmals unterbrechen und ist auf die Einleitung eines Steuerstrafverfahrens nicht angewiesen, um den Eintritt der Verjährung zu verhindern. Weil der Stillstand der Verjährung während des Strafverfahrens keinen Einfluss auf die absolute Festsetzungsverjährung nach Art. 42 Abs. 6 MWSTG hat (vgl. MICHAEL BEUSCH, in: Felix Geiger/Regine Schluckebier [Hrsg.], MWSTG, Kommentar, 2. Aufl. 2019, N. 30 zu Art. 42 MWSTG), hat die ESTV auch kein Interesse daran, ein Strafverfahren ohne Not einzuleiten bzw. jahrelang zu verschleppen. Wohl hat sie im vorliegenden Fall das Strafverfahren nicht beförderlich vorangetrieben; dasselbe gilt aber auch für das Veranlagungsverfahren und hat dazu geführt, dass die Steuerperioden 2011 und 2012 absolut verjährt sind.  
 
3.6. Es ist unbestritten, dass die ESTV am 17. August 2016 eine Strafuntersuchung gegen ein Organ der Beschwerdeführerin betreffend die Steuerperiode 2013 eröffnet und dies der Beschwerdeführerin (und ihrem Organ) am 14. Oktober 2016 mitgeteilt hat. Nachdem das Strafverfahren am 9. November 2021 eingestellt wurde, stand die relative Festsetzungsverjährung vom 14. Oktober 2016 bis 9. November 2021 still und begann danach durch diverse Unterbrechungshandlungen während des Fristenstillstandes (Gewährung des rechtlichen Gehörs; Erlass der Veranlagungsverfügung) neu zu laufen (Art. 42 Abs. 3 MWSTG) bzw. wurde in der Folge erneut unterbrochen. Sie ist damit bis zum heutigen Zeitpunkt nicht eingetreten.  
Dies führt zur Abweisung der Beschwerde hinsichtlich der Steuerperiode 2013. 
 
4.  
Zusammenfassend erweist sich die Beschwerde als begründet, soweit sie die bereits verjährte Steuerperiode 2012 betrifft. Im Übrigen ist die Beschwerde als unbegründet abzuweisen. Bei diesem Verfahrensausgang sind die Gerichtskosten den Parteien hälftig aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1-4 BGG). Da die Verjährung der Steuerperiode 2012 erst während des bundesgerichtlichen Verfahrens eingetreten ist, sind die Kosten des vorinstanzlichen Verfahrens nicht neu zu verlegen (Art. 67 BGG). Mangels eines überwiegenden Obsiegens der Beschwerdeführerin ist keine Parteientschädigung geschuldet (Art. 68 Abs. 1-3 BGG). 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.  
Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen. Das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 27. Oktober 2022 wird bezüglich der Steuerperiode 2012 aufgehoben. In Bezug auf die Steuerperiode 2013 wird die Beschwerde abgewiesen. 
 
2.  
Die Gerichtskosten von Fr. 5'500.- werden den Parteien hälftig auferlegt. 
 
3.  
Dieses Urteil wird der Beschwerdeführerin, der Eidgenössischen Steuerverwaltung und dem Bundesverwaltungsgericht, Abteilung I, schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 7. September 2023 
 
Im Namen der III. öffentlich-rechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Parrino 
 
Der Gerichtsschreiber: Businger