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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
6B_172/2023  
 
 
Urteil vom 24. Mai 2023  
 
Strafrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichterin Jacquemoud-Rossari, Präsidentin, 
Bundesrichterin van de Graaf, 
nebenamtliche Bundesrichterin Griesser, 
Gerichtsschreiberin Andres. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
vertreten durch Rechtsanwalt Adrian Junker, 
Beschwerdeführer, 
 
gegen  
 
Generalstaatsanwaltschaft des Kantons Thurgau, Maurerstrasse 2, 8510 Frauenfeld, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Mehrfache einfache Verletzung von Verkehrsregeln; rechtliches Gehör, 
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Obergerichts 
des Kantons Thurgau vom 7. September 2022 (SBR.2022.22). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
Mit Strafbefehl vom 14. August 2019 verurteilte die Staatsanwaltschaft Frauenfeld A.________ wegen mehrfacher einfacher Verletzung von Verkehrsregeln zu einer Busse von Fr. 300.--. Auf Einsprache von A.________ hin und nach Ergänzung der Untersuchung überwies die Staatsanwaltschaft am 25. September 2020 den Strafbefehl als Anklageschrift an das Bezirksgericht Münchwilen. 
 
B.  
Das Bezirksgericht Münchwilen wies die Einsprache mit Urteil vom 9. November 2021 ab und bestätigte den Strafbefehl vom 14. August 2019. 
Auf Berufung von A.________ hin büsste das Obergericht des Kantons Thurgau diesen am 7. September 2022 wegen mehrfacher einfacher Verletzung von Verkehrsregeln mit Fr. 300.-- und auferlegte ihm die Verfahrenskosten. 
 
C.  
Mit Beschwerde in Strafsachen vom 2. Februar 2023 beantragt A.________, der Entscheid des Obergerichts des Kantons Thurgau vom 7. September 2022 sei aufzuheben und die Sache zur Neubeurteilung an das Obergericht zurückzuweisen. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
Die Beschwerde hat ein Rechtsbegehren zu enthalten (Art. 42 Abs. 1 BGG). Gemäss Art. 107 BGG darf das Bundesgericht nicht über die Begehren der Parteien hinausgehen (Abs. 1). Heisst es die Beschwerde gut, so entscheidet es in der Sache selbst oder weist diese zu neuer Beurteilung an die Vorinstanz zurück (Abs. 2). Der Beschwerdeführer darf sich grundsätzlich nicht darauf beschränken, die Aufhebung des angefochtenen Entscheids zu beantragen, sondern muss einen Antrag in der Sache stellen. Da die Beschwerdebegründung zur Interpretation des Rechtsbegehrens beigezogen werden kann, genügt nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts ein Begehren ohne einen Antrag in der Sache, wenn sich aus der Begründung zweifelsfrei ergibt, was mit der Beschwerde angestrebt wird (BGE 137 II 313 E. 1.3; 136 V 131 E. 1.2; Urteile 6B_966/2022 vom 17. April 2023 E. 1; 6B_889/2022 vom 2. November 2022 E. 1; 6B_264/2021 vom 30. März 2022 E. 1.1; je mit Hinweisen). 
Der Beschwerdeführer stellt keinen materiellen Antrag, sondern verlangt lediglich die Aufhebung des angefochtenen Urteils und die Rückweisung an die Vorinstanz. Es wird in der Beschwerdeschrift nicht geltend gemacht, das Bundesgericht sei im Falle der Gutheissung nicht selbst in der Lage, ein Sachurteil zu fällen. In der Begründung der Beschwerde macht der Beschwerdeführer einzig die Verletzung des rechtlichen Gehörs geltend, ohne eine willkürliche Sachverhaltsfeststellung oder eine unzutreffende rechtliche Subsumption des Sachverhalts zu rügen. Auch wenn der Beschwerdeführer in der Beschwerde nicht ausdrücklich geltend macht, er sei vom Vorwurf der einfachen Verkehrsregelverletzung freizusprechen, so ist doch zu seinen Gunsten davon auszugehen, dass er mit seiner Beschwerde einen Freispruch erreichen will. Das Rechtsbegehren ist in diesem Sinne zu interpretieren und auf die Beschwerde ist einzutreten. 
 
2.  
 
2.1. Der Beschwerdeführer rügt, die Vorinstanz verletze seinen Anspruch auf rechtliches Gehör gemäss Art. 29 Abs. 2 BV und Art. 147 Abs. 1 StPO. Sie habe den Sachverhalt gemäss Anklage aufgrund des Anzeigerapports, der Befragung des Polizeibeamten B.________ als Auskunftsperson und der Befragung des Beschwerdeführers als erwiesen erachtet. Dabei habe die Vorinstanz unberücksichtigt gelassen, dass keine Konfrontation mit dem Polizeibeamten B.________ stattgefunden habe. Auch wenn es vorliegend ausschliesslich um Übertretungen gehe, seien sämtliche Rechtsfragen, also auch prozessuale, mit freier Kognition zu prüfen. Gemäss Art. 147 Abs. 1 StPO hätten die Parteien das Recht, bei den Beweiserhebungen anwesend zu sein und den einvernommenen Personen Fragen zu stellen. Beweise, welche in Verletzung von Art. 147 Abs. 1 StPO erhoben worden sind, dürften nicht zu Lasten der Partei verwertet werden, die nicht anwesend war. Dieser Anspruch gelte auch wenn es im Verfahren ausschliesslich um Übertretungen gehe. Die Verletzung des Teilnahmerechts und des Konfrontationsanspruchs wiege im vorliegenden Fall umso gravierender als nur ein Polizeibeamter als Auskunftsperson einvernommen worden sei.  
 
2.2. Die Vorinstanz weist zu Recht darauf hin, dass ihre Überprüfungsbefugnis als Berufungsinstanz in Anbetracht der vorgeworfenen Übertretungen eingeschränkt ist und dass neue Behauptungen und Beweise gemäss Art. 398 Abs. 4 StPO nicht vorgebracht werden können. Sie verneint eine offensichtlich unrichtige oder rechtsverletzende Sachverhaltsfeststellung der ersten Instanz und schliesst sich deren Ausführungen an (Urteil S. 4 ff.). Die Erstinstanz hielt fest, der Sachverhalt sei gestützt auf die Aussagen des Beschwerdeführers sowie diejenigen der Auskunftsperson B.________ zu ermitteln, und wies darauf hin, dass der Beschwerdeführer über die Einvernahme der Auskunftsperson und die Möglichkeit zur Teilnahme in Kenntnis gesetzt worden sei (erstinstanzliches Urteil S. 4, 9 ff.).  
 
2.3. Gemäss Art. 147 Abs. 1 StPO haben die Parteien das Recht, bei Beweiserhebungen durch die Staatsanwaltschaft und die Gerichte anwesend zu sein und einvernommenen Personen Fragen zu stellen. Dieses spezifische Teilnahme- und Mitwirkungsrecht fliesst aus dem Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 29 Abs. 2 BV und Art. 107 Abs. 1 lit. b StPO). Es darf nur in den gesetzlich vorgesehenen Fällen eingeschränkt werden (Art. 108, Art. 146 Abs. 4 und Art. 149 Abs. 2 lit. b StPO; siehe auch Art. 101 Abs. 1 StPO; BGE 143 IV 397 E. 3.3.1; 141 IV 220 E. 4.4; 139 IV 25 E. 4.2 mit Hinweis). Nach Art. 147 Abs. 4 StPO dürfen Beweise, die in Verletzung der Bestimmungen von Art. 147 StPO erhoben worden sind, nicht zulasten der Partei verwendet werden, die nicht anwesend war (BGE 143 IV 397 E. 3.3.1, 457 E. 1.6.1; 139 IV 25 E. 4.2 und E. 5.4.1; Urteile 6B_1078/2020 vom 26. Oktober 2022 E. 2.4.1; 6B_415/2021 vom 11. Oktober 2021 E. 2.3.1; je mit Hinweisen).  
Die beschuldigte Person hat gemäss Art. 6 Ziff. 3 lit. d EMRK ein Recht darauf, dem Belastungszeugen Fragen zu stellen. Eine belastende Zeugenaussage ist grundsätzlich nur verwertbar, wenn der Beschuldigte wenigstens einmal während des Verfahrens angemessene und hinreichende Gelegenheit hatte, das Zeugnis in Zweifel zu ziehen und Fragen an den Belastungszeugen zu stellen (BGE 140 IV 172 E. 1.3; 133 I 33 E. 3.1; 131 I 476 E. 2.2; Urteile 6B_665/2022 vom 14. September 2022 E. 3.3.1.3; 6B_1320/2020 vom 12. Januar 2022 E. 4.2.2, nicht publ. in: BGE 148 IV 22; je mit Hinweisen). 
Auf die Teilnahme resp. Konfrontation kann vorgängig oder auch im Nachhinein ausdrücklich oder stillschweigend verzichtet werden (BGE 143 IV 397 E. 3.3.1 mit Hinweisen). Teilnahmeberechtigte sind so schnell wie möglich über das Datum der Einvernahme in Kenntnis zu setzen (Urteil 6B_1080/2013 vom 22. Oktober 2014 E. 2.2; DORRIT SCHLEIMINGER METTLER, in: Basler Kommentar, Schweizerische Strafprozessordnung, 2. Aufl. 2014, N. 9 zu Art. 147 StPO). Bleibt ein Anwesenheitsberechtigter der Beweiserhebung trotz ordnungsgemässer Benachrichtigung und ohne zwingenden Grund fern, ist stillschweigender Verzicht anzunehmen (SCHMID/JOSITSCH, Schweizerische Strafprozessordnung, Praxiskommentar, 3. Aufl. 2018, N. 11 zu Art. 147 StPO; DORRIT SCHLEIMINGER METTLER, a.a.O., N. 11 zu Art. 147 StPO; THORMANN/MÉGEVAND, in: Commentaire romand, Code de procédure pénale suisse, 2. Aufl. 2019, N. 14 zu Art. 147 StPO). Ein Verzicht ist auch anzunehmen, wenn die beschuldigte Person es unterlässt, rechtzeitig und formgerecht entsprechende Anträge zu stellen (vgl. BGE 143 IV 397 E. 3.3.1; 125 I 127 E. 6c/bb; Urteile 6B_130/2022 vom 8. Dezember 2022 E. 2.4; 6B_665/2022 vom 14. September 2022 E. 3.3.1.4; 6B_1320/2020 vom 12. Januar 2022 E. 4.2.3, nicht publ. in: BGE 148 IV 22; 6B_522/2016 vom 30. August 2016 E. 1.3; je mit Hinweisen). Der Verzicht auf das Anwesenheitsrecht schliesst eine Wiederholung der Beweiserhebung aus (BGE 143 IV 397 E. 3.3.1 mit Hinweisen; Urteile 6B_130/2022 vom 8. Dezember 2022 E. 2.4; 6B_501/2022 vom 16. November 2022 E. 1.1.2; 6B_960/2019 vom 4. Februar 2020 E. 3.1). Die Annahme eines (gültigen) Verzichts auf Teilnahme und Konfrontation steht nicht im Widerspruch dazu, dass die Behörden die erforderlichen Beweise von Amtes wegen zu erheben haben (siehe Art. 6, Art. 343 und Art. 389 Abs. 3 StPO; Urteil 6B_665/2022 vom 14. September 2022 E. 3.3.2; 6B_100/2017 vom 9. März 2017 E. 3.2; 6B_522/2016 vom 30. August 2016 E. 1.3). Beweisanträge sind im Berufungsverfahren - Noven vorbehalten - in der Berufungserklärung (Art. 399 Abs. 3 lit. c StPO) oder spätestens vor Abschluss des Beweisverfahrens (Art. 405 Abs. 1 i.V.m. Art. 345 StPO) zu stellen (BGE 143 IV 214 E. 5.4; Urteile 6B_130/2022 vom 8. Dezember 2022 E. 2.4; 6B_665/2022 vom 14. September 2022 E. 3.3.1.4). 
 
2.4. Es kann offenbleiben, ob auf die erstmals vor Bundesgericht vorgetragenen Rügen der Verletzung des Konfrontationsanspruchs und des Teilnahmerechts überhaupt eingetreten werden kann (vgl. Art. 80 Abs. 1 BGG). Sie erweisen sich als unbegründet. Der Beschwerdeführer teilte der Staatsanwaltschaft am 16. März 2020 mit, dass er an der Einvernahme der Auskunftsperson B.________ nicht teilnehmen werde (Akten Staatsanwaltschaft Thurgau, act. SV 14). Mit Verfügung vom 26. August 2020 wurde B.________ zur Einvernahme als Auskunftsperson auf den 10. September 2020 vorgeladen, wobei diese Vorladung in Kopie an den Beschwerdeführer verschickt wurde mit dem Hinweis, die Vorladung gelte "als Einladung zur freiwilligen Teilnahme" an der Einvernahme (Akten Staatsanwaltschaft Thurgau, act. SV 20 S. 2). Wie zuvor angekündigt, erschien der Beschwerdeführer am 10. September 2020 nicht zur Einvernahme von B.________. Bereits aufgrund dieses Verhaltens des Beschwerdeführers durfte von einem Verzicht auf eine Teilnahme an der Einvernahme und der Konfrontation mit der Auskunftsperson B.________ ausgegangen werden. Ein Verzicht ist aber auch deshalb anzunehmen, weil der Beschwerdeführer spätestens im Berufungsverfahren eine Wiederholung der fraglichen Einvernahme hätte verlangen müssen. Er behauptet nicht, einen entsprechenden Beweisantrag (frist- und formgerecht) gestellt zu haben. Da aufgrund des (zumindest stillschweigenden) Verzichts des Beschwerdeführers weder das Teilnahmerecht noch das Recht auf Konfrontation mit dem Belastungszeugen verletzt ist, besteht insofern auch kein Anwendungsfall von Art. 389 Abs. 2 StPO. Die Vorinstanz verletzt weder den Anspruch auf rechtliches Gehör des Beschwerdeführers noch Bundes- oder Konventionsrecht. Da der Beschwerdeführer keine weiteren Rügen erhebt, bleibt es beim vorinstanzlichen Schuldspruch.  
 
3.  
Die Beschwerde ist abzuweisen. Bei diesem Ausgang des Verfahrens sind die bundesgerichtlichen Kosten dem Beschwerdeführer aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 BGG). 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.  
Die Beschwerde wird abgewiesen. 
 
2.  
Die Gerichtskosten von Fr. 3'000.-- werden dem Beschwerdeführer auferlegt. 
 
3.  
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Thurgau schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Lausanne, 24. Mai 2023 
 
Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Die Präsidentin: Jacquemoud-Rossari 
 
Die Gerichtsschreiberin: Andres