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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
9C_94/2022  
 
 
Urteil vom 16. August 2022  
 
II. sozialrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Parrino, Präsident, 
Bundesrichter Stadelmann, 
nebenamtliche Bundesrichterin Bechaalany, 
Gerichtsschreiber Traub. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________ GmbH in Liq., 
vertreten durch Rechtsanwalt Markus Lienert, 
Beschwerdeführerin, 
 
gegen  
 
GastroSocial Ausgleichskasse, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Alters- und Hinterlassenenversicherung, 
 
Beschwerde gegen das Urteil des Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich vom 16. Dezember 2021 (AB.2020.00100). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
Die A.________ GmbH in Liq. betrieb zwei Etablissements in den Kantonen Thurgau und Zürich. Als Arbeitgeberin ist sie seit Juli 2015 der Ausgleichskasse GastroSocial angeschlossen. Anlässlich einer Arbeitgeberkontrolle stellte die Ausgleichskasse im März 2020 fest, für den Zeitraum Juli 2015 bis Dezember 2018 seien Lohnbeiträge bezüglich verschiedener Angestellter der A.________ GmbH in Liq. nicht oder nicht korrekt abgerechnet worden. 
 
Demnach forderte die Ausgleichskasse von der A.________ GmbH in Liq. Beiträge (für AHV/IV/EO, ALV, FAK; ferner für einen Berufsbildungsfonds gemäss Berufsbildungsgesetz sowie für Zusatzversicherungen nach VVG) von Fr. 63'907.10 (einschliesslich Verwaltungskosten) und Verzugszinsen von Fr. 8'109.15 (Verfügung vom 18. Juni 2020). Die dagegen erhobene Einsprache wies die Ausgleichskasse ab (Entscheid vom 16. November 2020). 
 
B.  
Das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich wies die gegen den Einspracheentscheid erhobene Beschwerde ab, wobei es die Beiträge für Zusatzversicherungen und für den Berufsbildungsfonds unzuständigkeitshalber ausklammerte). Demnach bestätigte die Vorinstanz den Einspracheentscheid hinsichtlich der paritätischen Beiträge im Umfang von Fr. 48'613.65 und der Verzugszinsen von Fr. 8'109.15. Im Übrigen trat sie auf die Beschwerde nicht ein (Urteil vom 16. Dezember 2021). 
 
C.  
Die A.________ GmbH in Liq. führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten. Sie beantragt, das angefochtene Urteil sei aufzuheben und die Sache im Sinn der Erwägungen zur neuen Beurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen. Sollte dem Hauptantrag nicht entsprochen werden, werde ein zweiter Schriftenwechsel beantragt. Mit einem innert Nachfrist eingereichten Gesuch verlangt die Beschwerdeführerin die unentgeltliche Rechtspflege. 
Erwägungen: 
 
 
1.  
Da mit Blick auf den Ausgang des Verfahrens keine Vernehmlassungen eingeholt werden, ist der Antrag auf einen zweiten Schriftenwechsel gegenstandslos. 
 
2.  
Strittig ist, ob die Beschwerdegegnerin gegenüber der Beschwerdeführerin zu Recht paritätische Beiträge von Einkommen aus unselbständiger Erwerbstätigkeit nachgefordert hat (Art. 5 und Art. 12 f. AHVG). 
 
2.1. Die Beschwerdeführerin rügt eine Verletzung des Untersuchungsgrundsatzes, des Legalitätsprinzips und des Gebots der Verfahrensfairness. Sie macht geltend, im Kanton Zürich gälten Sexarbeiterinnen als selbständig erwerbend, im Kanton Thurgau jedoch als unselbständig erwerbend. Bei der im März 2020 für den Zeitraum Juli 2015 bis Dezember 2018 stattgefundenen Revision sei bezüglich des Betriebs im Kanton Zürich nichts beanstandet worden. Hinsichtlich des Betriebs im Kanton Thurgau seien erhebliche Nachbelastungen erfolgt. Diese beträfen jedoch Tätigkeiten der selbständigen Masseusen im Kanton Zürich, die alle über eine Arbeitsbewilligung verfügten und die Steuern und Sozialversicherungsbeiträge direkt abrechneten. Dies führe zu einer doppelten Vereinnahmung von Sozialabgaben, einmal direkt bei den selbständig erwerbenden Damen und ein zweites Mal bei ihr, der Beschwerdeführerin. Weder die Beschwerdegegnerin noch die Vorinstanz habe diese Sachverhalte richtig geklärt.  
 
Die Beschwerdeführerin fährt fort, das Vorgehen der Vorinstanzen verletze den Grundsatz von Treu und Glauben resp. des Verbots widersprüchlichen Verhaltens, den Vertrauensschutz, das Rechtsmissbrauchsverbot und das Gebot der Gleichbehandlung. Es widerspreche diesen Garantien, dass - nachdem die Steuerbehörde in Zürich sowie die für die Arbeitsbewilligungen zuständigen Ämter in ihren Zuständigkeitsbereichen eine selbständige Erwerbstätigkeit festgestellt hätten - die Ausgleichskasse und die Vorinstanz die Abführung der Beiträge in Abrede stellten, ohne von Amtes wegen abgeklärt zu haben, ob die Frauen ihre Sozialabgaben nicht schon als Selbständigerwerbende bezahlt hätten. Der vorinstanzliche Sachverhalt beruhe auf unbelegten Vermutungen und Behauptungen. 
 
2.2. Das Erwerbseinkommen einer sich prostituierenden Person ist grundsätzlich als rechtmässig anerkannt und wird in verschiedener Hinsicht rechtlich erfasst; so untersteht es der AHV-Beitragspflicht (BGE 147 IV 73 E. 7.2). Prostitution kann in der Schweiz sowohl als selbstständige wie auch als unselbstständige Form von Erwerbstätigkeit ausgeübt werden (BGE 147 V 359 E. 4.1; 140 II 460 E. 4.2). Unter Verweisung auf den Einspracheentscheid und gestützt auf eine eigene Würdigung der konkreten Umstände qualifiziert die Vorinstanz die Erwerbstätigkeit der Sexarbeiterinnen im Rahmen des im Kanton Zürich gelegenen Betriebs der Beschwerdeführerin zwischen dem 1. Juli 2015 und dem 31. Dezember 2018 als unselbständig. Mangels wesentlicher Unterschiede betriebsorganisatorischer Art rechtfertige es sich nicht, die Tätigkeit der Prostituierten im Zürcher Betrieb anders zu beurteilen als derjenigen im Thurgauer Betrieb (zum Ganzen: angefochtenes Urteil E. 2.2.3 und E. 4). Die Vorinstanz schlüsselt zudem die beitragserheblichen Positionen der beiden Standorte auf (a.a.O. E. 3 und 4.1).  
 
2.3. Die Beschwerdeführerin argumentiert nicht direkt gegen die beitragsrechtliche Würdigung der Statusfrage, sondern vorwiegend damit, die im Kanton Zürich tätigen Sexarbeiterinnen seien als Selbständigerwerbende anerkannt worden; es lägen Arbeitsbewilligungen vor und die Betroffenen rechneten Steuern und Sozialversicherungsbeiträge direkt ab. Die Vorinstanz hat zutreffend festgehalten, dass die Ausgleichskassen das Beitragsstatut (selbständige oder unselbständige Erwerbstätigkeit) grundsätzlich autonom - unabhängig von den Feststellungen der Steuerbehörden - zu beurteilen haben (BGE 145 V 326 E. 4.2; vgl. aber Art. 23 Abs. 4 AHVV betreffend Bindung an Angaben der kantonalen Steuerbehörden im Rahmen der Beitragsbemessung). Die steuerrechtliche Einschätzung präjudiziert die beitragsrechtliche Qualifikation, wie sie die Vorinstanzen anhand der konkreten Verhältnisse vorgenommen haben, nicht. Ebensowenig kann eine unter einem bestimmten Titel erteilte Arbeitsbewilligung beitragsrechtlich bindend wirken. Im Übrigen erklärt die Beschwerdeführerin nicht, inwiefern der vorinstanzliche Sachverhalt auf unbelegten Vermutungen und Behauptungen beruhen sollte (zur qualifizierten Rügepflicht im Hinblick auf die Feststellung des Sachverhalts: Art. 105 Abs. 2 und Art. 106 Abs. 2 BGG; statt vieler: Urteil 9C_161/2022 vom 7. Juli 2022 E. 2 mit Hinweisen). Nicht Gegenstand dieses Verfahrens ist, ob bereits Beiträge als Selbständigerwerbende geleistet worden sind und ob deshalb eine doppelte (und insoweit gegebenenfalls zu bereinigende) Beitragserhebung vorliegt.  
 
2.4. Die vor Bundesgericht vorgebrachten Beschwerdegründe waren im Wesentlichen bereits Thema des vorinstanzlichen Urteils (vgl. angefochtenes Urteil S. 3 f. E. 1.2). Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten ist nur gültig, wenn darin begründet wird, inwiefern der angefochtene Akt Recht verletzt (vgl. Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG; BGE 140 III 86 E. 2). In weiten Teilen ihrer Rechtsschrift setzt sich die Beschwerdeführerin nicht mit den einschlägigen vorinstanzlichen Erwägungen auseinander. Dies fällt insbesondere auch bei den zahlreichen Grundrechtsrügen ins Gewicht (die Beschwerdeführerin darf sich als juristische Person auf Grundrechte berufen, soweit diese ihrer Natur nach nicht allein natürlichen Personen zustehen können; BGE 145 I 121 E. 1.4) : Wird die Verletzung von Grundrechten geltend gemacht, besteht - über die Anforderungen von Art. 42 BGG hinaus - ebenfalls eine qualifizierte Rüge- und Begründungspflicht, d.h. es ist anhand der Erwägungen des angefochtenen Entscheids klar und detailliert aufzuzeigen, inwiefern die entsprechenden Rechtsnormen verletzt worden sein sollen (Art. 106 Abs. 2 BGG; BGE 147 I 73 E. 2.1). Dabei handelt es sich um Sachurteilsvoraussetzungen. Soweit es in der Beschwerde an einer Auseinandersetzung mit den vorinstanzlichen Entscheidgründen fehlt, kann darauf nicht eingetreten werden. Im Übrigen ist sie abzuweisen.  
 
3.  
 
3.1. Die Beschwerdeführerin, eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung (GmbH; Art. 772 ff. OR), beantragt die unentgeltliche Rechtspflege (Art. 64 BGG).  
 
3.1.1. Nach Art. 29 Abs. 3 BV kann jede Person, die nicht über die erforderlichen Mittel verfügt, die unentgeltliche Rechtspflege beanspruchen, wenn ihr Begehren nicht aussichtslos erscheint. Die bundesrechtliche Garantie ist auf natürliche Personen zugeschnitten. Juristische Personen können grundsätzlich weder die unentgeltliche Prozessführung noch eine Verbeiständung beanspruchen, denn sie sind gegebenenfalls nicht arm oder bedürftig, sondern bloss zahlungsunfähig oder überschuldet und haben in diesem Fall die gebotenen gesellschafts- und konkursrechtlichen Konsequenzen zu ziehen (BGE 143 I 328 E. 3.1; 131 II 306 E. 5.2.1; vgl. auch BGE 126 V 42 E. 4; 119 Ia 337 E. 4b). Ausnahmsweise spricht das Bundesgericht einer juristischen Person die unentgeltliche Rechtspflege zu, deren einziges Aktivum im Streit liegt, wenn die wirtschaftlich Beteiligten ihrerseits auch mittellos sind. Der Begriff der wirtschaftlich Beteiligten ist weit zu verstehen; er umfasst neben den Gesellschaftern auch die Organe der juristischen Person oder gegebenenfalls interessierte Gläubiger (BGE 131 II 306 E. 5.2.2). Erforderlich ist zudem, dass das Verfahren, für das die unentgeltliche Rechtspflege beansprucht wird, die Weiterexistenz der betreffenden juristischen Person sichert (BGE 143 I 328 E. 3.3 a.E.).  
 
3.1.2. Gemäss Handelsregister befindet sich die Beschwerdeführerin mit Wirkung seit 25. März 2021 zufolge eröffneten Konkurses in Liquidation (vgl. Art. 821 Abs. 1 Ziff. 3 OR). Für die Folgen der Auflösung der GmbH sind die Vorschriften des Aktienrechts entsprechend anwendbar (Art. 821a Abs. 1 OR). Danach werden die Befugnisse der Organe der Gesellschaft auf Handlungen beschränkt, die für die Durchführung der Liquidation erforderlich sind (Art. 739 Abs. 2 OR). Mit der Auflösung gibt die Gesellschaft die Verfolgung ihrer statutarischen Ziele endgültig auf; ihr einziger Zweck besteht in der Durchführung der Liquidation (BGE 143 I 328 E. 3.4).  
 
Mit Blick auf das Erfordernis, dass das Verfahren, für das die unentgeltliche Rechtspflege beantragt wird, geeignet sein muss, die Weiterexistenz der juristischen Person zu sichern, kommt die Unentgeltlichkeit nur infrage, wenn die Beschwerdeführerin im Falle eines ganzen oder teilweisen Obsiegens mit ihrer ursprünglichen Zwecksetzung weiter existieren könnte, etwa weil dadurch eine Überschuldung verhindert resp. beseitigt würde (vgl. BGE 143 I 328 E. 3.6). Die betreffenden Zusammenhänge sind im Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege aufzuzeigen (Art. 42 Abs. 1 BGG). Die Beschwerdeführerin äussert sich nicht zu diesen Fragen; sie macht bloss in allgemeiner Weise geltend, auch juristische Personen könnten die unentgeltliche Rechtspflege beanspruchen, sofern ungerechtfertigte Forderungen gegen sie erhoben würden und die Firma illiquid sei. Ob das Gesuch bereits mangels Substantiierung nicht an die Hand genommen werden kann, soll hier dahingestellt bleiben. Denn gemäss Handelsregister ist das Konkursverfahren am 7. Juli 2021 mangels Aktiven eingestellt worden (Art. 230 und 230a SchKG). Schon von daher ist nicht denkbar, dass ein ganzes oder teilweises Obsiegen im vorliegenden Rechtsstreit eine Weiterexistenz der Firma mit ihrer ursprünglichen Zwecksetzung ermöglichen könnte. 
 
3.1.3. Die Voraussetzungen, unter denen einer juristischen Person die unentgeltliche Rechtspflege gewährt werden kann, sind demnach nicht erfüllt. Somit muss insbesondere die Frage nach der fehlenden Aussichtslosigkeit (Art. 64 Abs. 1 BGG) nicht mehr geprüft werden. Angesichts des in E. 2 Gesagten liegt aber auf der Hand, dass das Rechtsmittel in der Sache ohnehin keine Aussicht auf Erfolg haben konnte.  
 
3.1.4. Für den Fall einer Ablehnung des Gesuchs um unentgeltliche Rechtspflege beantragt die Beschwerdeführerin, es sei ihr eine Nachfrist zur Bezahlung eines Kostenvorschusses innert angemessener Frist zu gewähren.  
 
Nachdem die Beschwerdeführerin den Kostenvorschuss nicht innert der ordentlichen Frist geleistet hatte, setzte das Bundesgericht mit Verfügung vom 11. März 2022 gestützt auf Art. 62 Abs. 3 BGG eine Nachfrist zur Einzahlung des Kostenverschusses bis zum 22. März 2022. Innert dieser Frist stellte die Beschwerdeführerin das im Rahmen dieses Urteils abgelehnte Gesuch. Die gesetzte Nachfrist war damit gegenstandslos. Die Ansetzung einer neuen Nachfrist ist ausgeschlossen (vgl. Art. 62 Abs. 3 dritter Satz BGG); sie hätte im Übrigen auch keinen Sinn ergeben, da die in der erwähnten Bestimmung angedrohte Rechtsfolge (Nichteintreten auf die Beschwerde infolge des nicht geleisteten Kostenvorschusses) mit dem Gesuch abgewendet worden ist. 
 
3.2. Mit Blick auf den Ausgang des Verfahrens wird die Beschwerdeführerin grundsätzlich kostenpflichtig. In Anwendung von Art. 66 Abs. 1 zweiter Satz BGG ist umständehalber - aus Gründen der Praktikabilität - auf die Erhebung von Gerichtskosten zu verzichten.  
Demnach erkennt das Bundesgericht: 
 
 
1.  
Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit auf sie einzutreten ist. 
 
2.  
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wird abgewiesen. 
 
3.  
Es werden keine Gerichtskosten erhoben. 
 
4.  
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 16. August 2022 
 
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Parrino 
 
Der Gerichtsschreiber: Traub