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Urteilskopf

148 I 89


6. Auszug aus dem Urteil der II. öffentlich-rechtlichen Abteilung i.S. A. gegen Regierungsrat des Kantons Bern (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten)
2C_183/2021 vom 23. November 2021

Regeste

Art. 5 Abs. 2, Art. 11 und Art. 49 BV; Art. 40 EpG; Art. 8 Covid-19-Verordnung besondere Lage; Art. 10 Covid-19-Verordnung des Kantons Bern vom 4. November 2020; abstrakte Normenkontrolle; Maskentragpflicht ab dem 5. Schuljahr der Primarschule; Verhältnismässigkeit.
Nach dem aktuellen Stand des Wissens ist davon auszugehen, dass auch an Schulen ein gewisses Risiko der Verbreitung von Corona-Viren besteht und dass die Verwendung von Gesichtsmasken dazu beiträgt, dieses Risiko zu reduzieren. Aufgrund der von der Beschwerdeführerin vorgelegten Studien ist nicht hinreichend wissenschaftlich belegt, dass das Maskentragen bei Kindern krankheitswertige gesundheitliche Schäden verursachen würde (E. 6.5). Eingriffsintensität (E. 7.2). Im Lichte von Art. 19 BV besteht ein hohes öffentliches Interesse an Präsenz-Schulunterricht (E. 7.3). Angesichts der im massgebenden Zeitpunkt bestehenden Unsicherheiten über die Gefährlichkeit der neuen Virusvarianten und mit Blick auf das Ermessen, das den Behörden zukommt, war die Massnahme gerechtfertigt und verhältnismässig (E. 7.4).

Sachverhalt ab Seite 90

BGE 148 I 89 S. 90

A. Der Bundesrat erliess am 19. Juni 2020 die (alte) Verordnung über Massnahmen in der besonderen Lage zur Bekämpfung der Covid-19-Epidemie (Covid-19-Verordnung besondere Lage; AS 2020 2213; in Kraft bis 25. Juni 2021). Mit Änderung vom 28. Oktober 2020 (AS 2020 4503) wurden unter anderem folgende Änderungen betreffend Maskenpflicht eingefügt:
Art. 3b Personen in öffentlich zugänglichen Bereichen von Einrichtungen und Betrieben und in Zugangsbereichen des öffentlichen Verkehrs
1 Jede Person muss in öffentlich zugänglichen Innenräumen und Aussenbereichen von Einrichtungen und Betrieben, einschliesslich
BGE 148 I 89 S. 91
Märkten, sowie in Wartebereichen von Bahn, Bus und Tram und in Bahnhöfen, Flughäfen und anderen Zugangsbereichen des öffentlichen Verkehrs eine Gesichtsmaske tragen.
2 Folgende Personen sind von dieser Pflicht ausgenommen:
a. Kinder vor ihrem 12. Geburtstag;
(...)
Art. 6d Besondere Bestimmungen für Bildungseinrichtungen
1 (...)
2 Jugendliche in Schulen der Sekundarstufe II sowie deren Lehrpersonen und weiteres in diesen Schulen tätiges Personal müssen bei Präsenzveranstaltungen eine Gesichtsmaske tragen. Ausgenommen sind Situationen, in denen das Tragen einer Maske den Unterricht wesentlich erschwert.
3 (...)

B. Am 4. November 2020 erliess der Regierungsrat des Kantons Bern die Verordnung über Massnahmen zur Bekämpfung der Covid-19-Epidemie (Covid-19 V; BSG 815.123; BAG 20-113; nachfolgend: Covid-19 V/BE). Ihre Art. 9 und 10 lauteten wie folgt:
Art. 9 Grundsatz
1 In Ergänzung zu Artikel 3b der Covid-19-Verordnung besondere Lage muss jede Person in allen Innenräumen von Schulen eine Gesichtsmaske tragen.
Art. 10 Geltungsbereich
1 Diese Pflicht gilt in Schulen gemäss der Volksschulgesetzgebung, der Mittelschulgesetzgebung, der Gesetzgebung über die Berufsbildung, die Weiterbildung und die Berufsberatung sowie der Musikschulgesetzgebung.
2 Diese Pflicht gilt nicht
a für Schülerinnen und Schüler im Kindergarten und auf der Primarstufe,
b für Personen, die nachweisen können, dass sie aus besonderen Gründen, insbesondere medizinischen, keine Gesichtsmasken tragen können, wobei andere, geeignete Massnahmen zum Schutz vor Ansteckung zu treffen sind,
c für alle Personen in Situationen, in denen das Tragen einer Gesichtsmaske den Unterricht wesentlich erschwert, wobei andere, geeignete Massnahmen zum Schutz vor Ansteckung zu treffen sind.

C. Am 3. Februar 2021 änderte der Regierungsrat die Covid-19 V/BE (BAG 21-010). Dabei wurde unter anderem Art. 10 Abs. 2 lit. a wie folgt geändert:
BGE 148 I 89 S. 92
Art. 10 Abs. 2
2 Diese Pflicht gilt nicht
a (geändert) für Schülerinnen und Schüler im Kindergarten und im ersten bis vierten Schuljahr der Primarstufe.

D. Am 17. Februar 2021 erhob A. Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten an das Bundesgericht mit dem Antrag, Art. 10 Abs. 2 lit. a der Covid-19 V/BE sei aufzuheben und durch eine bundesrechtskonforme Regelung zu ersetzen. Zudem beantragt sie aufschiebende Wirkung.
Das Bundesamt für Gesundheit "unterstützt die Ausführungen der Vorinstanz" und verzichtet auf weitere Bemerkungen. Die Bildungs- und Kulturdirektion des Kantons Bern beantragt namens des Regierungsrats, die Beschwerde sei abzuweisen. A. und die Bildungs- und Kulturdirektion halten mit Replik und Duplik an ihren Anträgen fest.
Mit Verfügung des Präsidenten der II. öffentlich-rechtlichen Abteilung des Bundesgerichts vom 22. März 2021 wurde das Gesuch um aufschiebende Wirkung abgewiesen.

E. Die Änderung von Art. 10 Covid-19 V/BE war zunächst bis am 28. Februar 2021 befristet. Sie wurde in der Folge wiederholt verlängert, nämlich zunächst bis 31. März 2021 (BAG 21-015), dann bis 30. April 2021 (BAG 21-025), bis 31. Mai 2021 (BAG 21-034) und bis 10. Juli 2021 (BAG 21-047). Mit Verordnungsänderung vom 24. Juni 2021 (BAG 21-054) wurde Art. 10 der Covid-19 V/BE aufgehoben, mit Inkrafttreten am 26. Juni 2021.
Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab.

Erwägungen

Aus den Erwägungen:

6. (...)

6.5 Als Quintessenz ergibt sich: Das Bundesgericht geht auf Grund des ihm aktuell vorliegenden Sachverhalts davon aus, dass auch an Schulen ein gewisses Risiko der Verbreitung von Corona-Viren besteht, nicht nur in Bezug auf die Kinder, sondern auch auf Lehrkräfte, Eltern und andere Kontaktpersonen, und dass zumindest zu Beginn des Jahres 2021 eine Unsicherheit bestand über die Auswirkungen der Virusmutationen. Weiter geht das Bundesgericht davon aus, dass die Verwendung von Masken grundsätzlich dazu beiträgt, die Verbreitung der Viren zu begrenzen. Allerdings fehlen
BGE 148 I 89 S. 93
konkrete Angaben oder Abschätzungen, um wie viel das Ansteckungsrisiko durch die angeordnete Maskenpflicht reduziert wird. Sodann ist evident, dass das Tragen von Gesichtsmasken die Kommunikation einschränkt und als unangenehm und belastend empfunden werden kann; ebenso ist plausibel, dass eine unsachgemässe Verwendung von Masken die Schutzwirkung reduziert bzw. auch kontraproduktiv sein kann. Den von der Beschwerdeführerin ins Recht gelegten Beweismitteln können zwar gewisse Hinweise auf nachteilige gesundheitliche Auswirkungen des Maskentragens entnommen werden. Indessen ist aufgrund der vorgelegten Studien nicht hinreichend wissenschaftlich belegt, dass das Maskentragen bei Kindern effektiv krankheitswertige gesundheitliche Schäden verursachen würde (vgl. auch Urteil 2C_228/2021 vom 23. November 2021 E. 5.5). Es besteht somit kein Anlass für das Bundesgericht, von der Beurteilung der kantonalen Behörden, wonach das Maskentragen bei (gesunden) Kindern medizinisch unbedenklich sei, abzuweichen.

7. Das Bundesgericht hat bereits in mehreren Urteilen festgehalten, dass das Ziel, die Ausbreitung des Corona-Virus zu begrenzen, im öffentlichen Interesse liegt (vgl. BGE 148 I 33 E. 6.5, BGE 148 I 19 E. 5.4; BGE 147 I 450 E. 3.3.1). Dass auch an Schulen ein gewisses Übertragungsrisiko besteht, wurde bereits dargelegt (vgl. E. 6.5 hiervor). Näher zu prüfen ist die Verhältnismässigkeit der angefochtenen Massnahme anhand der erwähnten Kriterien (vgl. nicht publ. E. 5).

7.1 Im BGE 147 I 393 hat das Bundesgericht eine Maskenpflicht für Kunden in Einkaufsläden als verhältnismässig beurteilt: Einerseits wog der Grundrechtseingriff auch deshalb nicht schwer, weil die Kunden die Möglichkeit hatten, die Einkäufe zu umgehen, indem sie die Waren nach Hause liefern lassen. Andererseits betraf die Pflicht nur die kurze Zeit des Einkaufens. Sodann war die Maskenpflicht in einem Zeitpunkt angeordnet worden (Herbst 2020), in welchem sich ein Anstieg der Krankheitsfälle abzeichnete und dieser denn auch in starkem Masse eintrat. Schliesslich ging das Bundesgericht davon aus, dass das Maskentragen ein wirksames Mittel sei, um das Ansteckungsrisiko zu reduzieren. Es war zudem ein milderes Mittel als die Schliessung der Einkaufszentren, die sonst allenfalls gedroht hätte (vgl. dort E. 5.1.3 und 5.3.4).

7.2 Im vorliegenden Fall verhält es sich insoweit etwas anders, als die Schulkinder nicht die Wahl haben, ob sie zur Schule gehen
BGE 148 I 89 S. 94
wollen oder nicht, sondern dazu verpflichtet sind. Sodann gilt die Pflicht, eine Gesichtsmaske zu tragen, nicht nur während einer kurzen Zeit, sondern während des ganzen Schultages, also während mehrerer Stunden. Der Eingriff ist somit von wesentlich stärkerer Intensität als die Maskenpflicht während der beschränkten Dauer des Einkaufens. Zudem ist in der Unterrichtssituation viel mehr als beim Einkaufen die zwischenmenschliche Kommunikation von Bedeutung, welche durch das Maskentragen nicht unerheblich beeinträchtigt wird. Schliesslich kann nicht ausgeschlossen werden, dass der Schulbetrieb bzw. der Lernerfolg durch das Tragen von Gesichtsmasken in Mitleidenschaft gezogen werden könnte, und zwar unabhängig davon, ob dadurch krankheitswertige psychologische Beeinträchtigungen auftreten.
Indessen wurde bereits erwogen, dass die von der Beschwerdeführerin geltend gemachte Schädlichkeit des Maskentragens jedenfalls in physischer Hinsicht sachverhaltlich nicht erstellt ist (vgl. nicht publ. E. 6.4 und E. 6.5 hiervor). Zudem ist die Möglichkeit eines Dispenses vom Maskentragen, insbesondere aus gesundheitlichen Gründen, in der Verordnung ausdrücklich vorgesehen.

7.3 Mit Blick auf die Erforderlichkeit ist zunächst festzuhalten, dass gemessen an den Fallzahlen die Entwicklung der Pandemie im Januar und Februar 2021 nicht auf eine Verschärfung der Lage hindeutete. Indessen bestanden im hier massgebenden Zeitpunkt verschiedene Unsicherheiten betreffend neu auftretende Virusmutationen. Unklar war insbesondere, ob diese ansteckender und auch für Kinder gefährlicher sein könnten. Vor diesem Hintergrund erscheint das Ergreifen zusätzlicher Massnahmen durch den Kanton als gerechtfertigt (vgl. nicht publ. E. 3.8).
Sodann ist unbestritten, dass im Januar und zu Beginn des Februars 2021 mehrere Schulen im Kanton Bern wegen Quarantänen geschlossen wurden. Zwar ist nicht völlig klar, ob diese Schliessungen zwingend waren: Der Kanton verweist darauf, der Bund habe die Quarantäne-Vorschriften verschärft, während die Beschwerdeführerin vorbringt, der Kanton habe die vom Bund vorgegebenen Kriterien verschärft. Dies ändert jedoch nichts daran, dass Schulen wegen der epidemiologischen Situation geschlossen wurden, so dass Anlass bestand, dies wenn möglich in Zukunft zu vermeiden. Besonders zu beachten ist in diesem Zusammenhang, dass mit Blick auf den verfassungsmässigen Anspruch auf Grundschulunterricht (Art. 19 BV)
BGE 148 I 89 S. 95
und die grosse Bedeutung sozialer Interaktionen für die Entwicklung der Kinder ein hohes öffentliches Interesse daran besteht, dass der Unterricht nach Möglichkeit als Präsenzunterricht stattfindet. Vor diesem Hintergrund stellt die Pflicht, eine Gesichtsmaske zu tragen, ein milderes Mittel als Schulschliessungen dar (vgl. auch Urteil 2C_228/2021 vom 23. November 2021 E. 6.3).
Schliesslich ist mit Bezug auf die Erforderlichkeit zu berücksichtigen, dass die Maskenpflicht auch dem Schutz Dritter dient, namentlich der Lehrkräfte, unter denen sich auch Risikopersonen befinden können.

7.4 Es kann somit festgehalten werden, dass die Massnahme, die Streitgegenstand des vorliegenden Verfahrens bildet (vgl. nicht publ. E. 1.4), bis zum 28. Februar 2021 befristet wurde. Der Kanton hat nachvollziehbar begründet, weshalb er angesichts der damaligen Situation mit den erfolgten Schulschliessungen und dem Auftreten neuer Virusmutationen die Maskenpflicht angeordnet hat. Angesichts der im Januar und Anfang Februar bestehenden Unsicherheiten über die Gefährlichkeit der neuen Virusvarianten und mit Blick auf das Ermessen, das den Behörden zukommt (vgl. nicht publ. E. 5.4 und 5.7), war die Massnahme gerechtfertigt und verhältnismässig. Dadurch konnte sowohl dem öffentlichen Interesse am Schutz der Gesundheit als auch den Interessen der Kinder an der Aufrechterhaltung des Präsenzunterrichts Rechnung getragen werden. Es kann sich nämlich rechtfertigen, bei einer unbekannten Situation vorerst einschneidendere Massnahmen anzuordnen, um zu verhindern, dass sich eine unkontrollierte Situation entwickelt, die in der Folge mit noch gravierenderen Einschränkungen behoben werden müsste. Daher kann auch eine potenziell überschiessende Massnahme in solchen Situationen kurzfristig zulässig sein; sie müsste jedoch umso dringender regelmässig auf ihre Berechtigung hin überprüft werden (Art. 40 Abs. 3 EpG; vgl. auch nicht publ. E. 5.3-5.6; BGE 148 I 33 E. 6.6, BGE 148 I 19 E. 5.5; BGE 147 I 450 E. 3.2.7), und zwar in umso kürzeren Abständen, je gravierender die Massnahme ist. Es wäre ein unzulässiger Rückschaufehler, die angefochtene Bestimmung bereits deswegen als rechtswidrig zu bezeichnen, weil in der Folge die befürchteten Entwicklungen nicht eingetreten sind.

Inhalt

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Regeste: deutsch französisch italienisch

Sachverhalt

Erwägungen 6 7

Referenzen

BGE: 148 I 33, 148 I 19, 147 I 450, 147 I 393

Artikel: Art. 19 BV, Art. 5 Abs. 2, Art. 11 und Art. 49 BV, Art. 40 EpG, Art. 10 Abs. 2 mehr...