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Urteilskopf

149 II 246


23. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung i.S. A.A. gegen Generalstaatsanwaltschaft und Departement für Justiz und Sicherheit des Kantons Thurgau (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten)
1C_344/2022 / 1C_656/2022 vom 2. Juni 2023

Regeste a

Art. 13, 14, 16 und 19 OHG; Art. 5 OHV; Opferhilfegesetzgebung; Anwaltskosten des Strafverfahrens.
Das Opfer im Sinne der Opferhilfegesetzgebung kann die Anwaltskosten des Strafverfahrens ausschliesslich als Soforthilfe oder als längerfristige Hilfe im Sinne von Art. 13 OHG geltend machen (E. 5).

Regeste b

Art. 4 Abs. 1 und 2 OHG; keine Subsidiarität der Leistungen aus OHG im Verhältnis zur unentgeltlichen Rechtspflege.
Die Subsidiarität der Opferhilfe greift nicht im Verhältnis zur unentgeltlichen Rechtspflege. Ein Opfer, das Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege hat, diesen aber im Strafverfahren nicht geltend macht, kann auch nachträglich noch bei der Opferhilfestelle den Antrag auf Übernahme der Anwaltskosten stellen (E. 12).

Sachverhalt ab Seite 247

BGE 149 II 246 S. 247

A. Am 31. Mai 2019 erhob die Staatsanwaltschaft Bischofszell Anklage beim Bezirksgericht Weinfelden gegen C. wegen sexuellen Handlungen mit Kindern, Pornografie und Tätlichkeiten unter anderem zum Nachteil von A.A. Der Rechtsvertreter von A.A. hatte bereits im Vorfeld der Anklageerhebung subsidiär Forderungen aus dem Bundesgesetz vom 23. März 2007 über die Hilfe an Opfer von Straftaten (OHG; SR 312.5) gestellt. Das Verfahren betreffend Forderung aus OHG wurde mit verfahrensleitender Verfügung vom 28. November 2019 vom Strafverfahren gegen C. abgetrennt und bis zu dessen rechtskräftigem Abschluss sistiert.
Mit Urteil vom 9. Dezember 2019 wurde C. unter anderem der mehrfachen sexuellen Handlungen mit Kindern zum Nachteil von A.A. schuldig gesprochen. Dieser wurde eine Genugtuung von Fr. 15'000.- zugesprochen.

B.

B.a Nach Eintritt der Rechtskraft des strafrechtlichen Urteils informierte das Bezirksgericht Weinfelden die Parteien mit Schreiben vom 2. Juni 2021 über die Weiterführung des OHG-Verfahrens. Mit Entscheid vom 22. September 2021 sprach es A.A. eine Genugtuung aus OHG von Fr. 15'000.- zu. A.A.s Antrag auf Entschädigung ihres Rechtsvertreters für das Strafverfahren wies es ab.
BGE 149 II 246 S. 248

B.b Dagegen erhob A.A. Beschwerde beim Obergericht des Kantons Thurgau. Dieses nahm die Beschwerde als Berufung entgegen und erkannte mit Entscheid vom 18. Januar 2022: "Die Berufung ist unbegründet" (Ziff. 1).

B.c Gegen diesen Entscheid erhebt A.A. Beschwerde beim Bundesgericht und beantragt, Ziff. 1 des angefochtenen Entscheids sei aufzuheben und es sei ihr für die Opfervertretung im erwähnten Strafverfahren eine Entschädigung von Fr. 12'294.50 aus Opferhilfe zuzusprechen; eventuell sei die Sache zur Neubeurteilung zurückzuweisen (Verfahren 1C_344/2022).
Die Generalstaatsanwaltschaft des Kantons Thurgau beantragt die Abweisung der Beschwerde. Das Obergericht beantragt die Abweisung der Beschwerde unter Hinweis auf den angefochtenen Entscheid.

C.

C.a Nach dem Entscheid des Bezirksgerichts Weinfelden vom 22. September 2021 (vgl. oben Bst. B.a) reichte A.A. am 11. Oktober 2021, parallel zum unter Bst. B beschriebenen Verfahren, beim Departement für Justiz und Sicherheit des Kantons Thurgau einen Antrag auf Übernahme der Anwaltskosten in der Höhe von Fr. 12'294.50 ein. Mit Entscheid vom 25. Mai 2022 wies das Departement für Justiz und Sicherheit des Kantons Thurgau den Antrag ab.

C.b Die dagegen von A.A. beim Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau erhobene Beschwerde wies dieses mit Entscheid vom 9. November 2022 ab.

C.c Gegen diesen Entscheid erhebt A.A. Beschwerde beim Bundesgericht und beantragt, der angefochtene Entscheid sei aufzuheben und es sei ihr für die Opfervertretung im erwähnten Strafverfahren eine Entschädigung von Fr 12'294.50 aus Opferhilfe zuzusprechen; eventuell sei die Sache zur Neubeurteilung zurückzuweisen (Verfahren 1C_656/2022). (...)
Das Bundesgericht vereinigt die Verfahren, heisst beide Beschwerden gut und weist die Sache zur Neubeurteilung an das Verwaltungsgericht zurück.
(Auszug)

Erwägungen

BGE 149 II 246 S. 249
Aus den Erwägungen:
Verfahren 1C_344/2022

5. Es ist zunächst die Frage zu klären, ob die Anwaltskosten des Strafverfahrens als längerfristige Hilfe im Sinne von Art. 13 Abs. 2 OHG oder als Entschädigung im Sinne von Art. 19 OHG zu qualifizieren sind.

5.1 Gemäss Art. 13 Abs. 1 OHG leisten die Opferhilfeberatungsstellen dem Opfer und seinen Angehörigen sofort Hilfe für die dringendsten Bedürfnisse, die als Folge der Straftat entstehen (Soforthilfe). Nach Abs. 2 desselben Artikels leisten sie dem Opfer und dessen Angehörigen soweit nötig zusätzliche Hilfe, bis sich der gesundheitliche Zustand der betroffenen Person stabilisiert hat und bis die übrigen Folgen der Straftat möglichst beseitigt oder ausgeglichen sind (längerfristige Hilfe). Die Beratungsstellen können die Soforthilfe und die längerfristige Hilfe durch Dritte erbringen lassen (Art. 13 Abs. 3 OHG).
Hingegen haben das Opfer und seine Angehörigen nach Art. 19 Abs. 1 OHG Anspruch auf eine Entschädigung für den erlittenen Schaden infolge Beeinträchtigung oder Tod des Opfers.
Gemäss Art. 5 der Verordnung vom 27. Februar 2008 über die Hilfe an Opfer von Straftaten (OHV; SR 312.51) können Anwaltskosten ausschliesslich als Soforthilfe oder längerfristige Hilfe geltend gemacht werden.

5.2 Das Bundesgericht hat in BGE 131 II 121 E. 2.4, d.h. vor Inkrafttreten der Totalrevision des Opferhilfegesetzes, festgehalten, dass Anwaltskosten generell als Hilfeleistungen zu qualifizieren sind. Es hat aber die subsidiäre Forderung, die Anwaltskosten als Entschädigung abzugelten, nicht ausgeschlossen bzw. bejaht (vgl. PETER GOMM, in: Kommentar zum Opferhilferecht, 4. Aufl. 2020, N. 24 zu Art. 19 OHG). Unter dem alten Opferhilfegesetz bestand also die Möglichkeit, Anwaltskosten sowohl als Hilfeleistung gemäss OHG wie auch als Entschädigung gemäss OHG geltend zu machen.
Am 1. Januar 2009 sind das totalrevidierte Opferhilfegesetz und die Opferhilfeverordnung in Kraft getreten. Art. 5 OHV sieht seither explizit vor, dass Anwaltskosten ausschliesslich als Soforthilfe oder längerfristige Hilfe geltend gemacht werden können.
Dies stimmt mit der Botschaft zum totalrevidierten Opferhilfegesetz überein, wo der Bundesrat ausführt, die längerfristige Hilfe gemäss
BGE 149 II 246 S. 250
Art. 13 OHG diene dazu, die Folgen der Straftat zu beseitigen oder wenigstens zu mildern, und umfasse unter anderem die juristische Unterstützung (Anwalts- und Verfahrenskosten) in Verfahren, die Folge der Straftat seien (Botschaft vom 9. November 2005 zur Totalrevision des Bundesgesetzes über die Hilfe an Opfer von Straftaten, BBl 2005 7211; nachfolgend: Botschaft OHG).
Schliesslich führt auch die Schweizerische Verbindungsstellen-Konferenz Opferhilfegesetz (SVK-OHG) in ihrer Fachtechnischen Empfehlung vom 22. Oktober 2019 betreffend Übernahme von Anwaltskosten aus, dass die Anwaltskosten entweder als Soforthilfe oder als längerfristige Hilfe geltend gemacht werden können, und stützen sich dabei auf die Art. 13, 14 und 16 OHG sowie auf Art. 5 OHV.
Vor diesem Hintergrund besteht kein Zweifel daran, dass Anwaltskosten ausschliesslich als Soforthilfe oder als längerfristige Hilfe im Sinne von Art. 13 OHG geltend gemacht werden können. Die gegenteilige Argumentation der Beschwerdeführerin ist unbegründet.
(...)
Verfahren 1C_656/2022

12.

12.1 Gemäss der unter dem alten OHG entwickelten Rechtsprechung waren die Leistungen aus OHG subsidiär zur unentgeltlichen Rechtspflege (BGE 131 II 121 E. 2.3; BGE 121 II 209 E. 3b; Urteil 1C_26/2008 vom 18. Juni 2008 E. 4; siehe auch MAZZUCCHELLI/POSTIZZI, in: Basler Kommentar, Schweizerische Strafprozessordnung, 2. Aufl. 2014, N. 19 zu Art. 136 StPO; HARARI/CORMINBOEUF HARARI, in: Commentaire romand, Code de procédure pénale suisse, 2. Aufl. 2019, N. 39 zu Art. 136 StPO). Stand dem Opfer nach dem kantonalen Verfahrensrecht ein Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung zu, bestand grundsätzlich kein Bedarf mehr für die Übernahme der Anwaltskosten durch die Opferhilfestelle (zit. Urteil 1C_26/2008 E. 4). In BGE 121 II 209 E. 3b wurde diese Subsidiarität unter Hinweis auf die Materialien damit begründet, dass der Bundesgesetzgeber mit dem OHG, insbesondere betreffend die unentgeltliche Rechtspflege, nicht in die Zuständigkeit der Kantone im Bereich des Strafprozesses eingreifen wollte.
Die Rechtslage hat sich seit der Entwicklung dieser Rechtsprechung jedoch beträchtlich verändert. Zum einen ist die Gesetzgebung auf dem Gebiet des Strafprozessrechts seit der Annahme des
BGE 149 II 246 S. 251
Bundesbeschlusses über die Reform der Justiz am 12. März 2000 eine Bundeskompetenz (Art. 123 Abs. 1 BV). So hat am 1. Januar 2011 die Schweizerische Strafprozessordnung die kantonalen Strafprozessordnungen abgelöst. Zum anderen ist am 1. Januar 2009 die Totalrevision des OHG in Kraft getreten. Zumal das Bundesgericht die Subsidiarität der Leistungen aus OHG im Vergleich zur unentgeltlichen Rechtspflege hauptsächlich mit der - mittlerweile weggefallenen - kantonalen Zuständigkeit im Bereich des Strafprozessrechts begründete, rechtfertigt es sich, das Verhältnis der beiden Rechtsinstitute zu überprüfen. Dazu ist Art. 4 OHG auszulegen.

12.2 Gemäss Art. 4 Abs. 1 OHG werden Leistungen der Opferhilfe nur endgültig gewährt, wenn der Täter oder die Täterin oder eine andere verpflichtete Person oder Institution keine oder keine genügende Leistung erbringt. Wer Kostenbeiträge für die längerfristige Hilfe Dritter, eine Entschädigung oder eine Genugtuung beansprucht, muss glaubhaft machen, dass die Voraussetzungen nach Absatz 1 erfüllt sind, es sei denn, es sei ihm oder ihr angesichts der besonderen Umstände nicht zumutbar, sich um Leistungen Dritter zu bemühen (Art. 4 Abs. 2 OHG).
Art. 4 Abs. 1 OHG legt in allgemeiner Weise die Subsidiarität der Opferhilfe im Verhältnis zu anderen verpflichteten Personen und Institutionen fest, insbesondere dem ausdrücklich genannten Täter bzw. der Täterin. Das Institut der unentgeltlichen Rechtspflege wird hingegen nicht ausdrücklich erwähnt. Es stellt sich also die Frage, ob der Kanton, wenn er in einem Strafverfahren unentgeltliche Rechtspflege leistet, im Verhältnis zum Staat, wenn er Opferhilfe leistet, als eine "andere verpflichtete Person oder Institution" ("un autre débiteur" / "un'altra persona o istituzione debitrice") zu gelten hat. Da die Kantone sowohl für die unentgeltliche Rechtspflege wie auch betreffend Leistungen der Opferhilfe Schuldnerinnen sind (vgl. Botschaft OHG, a.a.O., S. 7239), ist dies zu verneinen. Vielmehr ist davon auszugehen, dass keine "andere" - sondern die gleiche - verpflichtete Person bzw. Körperschaft zur Zahlung verpflichtet ist. Dieser Schluss bestätigt sich bei Berücksichtigung der übrigen Auslegungsmethoden, wie nachfolgend zu zeigen ist.

12.3 In der Botschaft zum OHG wird zu Art. 4 ausgeführt, die Opferhilfe mildere allenfalls ungenügende Leistungen der primär Leistungspflichtigen und wolle verhindern, dass die betroffenen Personen Sozialhilfe in Anspruch nehmen müssten (Botschaft OHG, a.a.O., S. 7205). Neben dem Täter oder der Täterin erwähnt die
BGE 149 II 246 S. 252
Botschaft als primär Leistungspflichtige ausdrücklich Sozial- und Privatversicherungen und ausländische Staaten (Botschaft OHG, a.a.O., S. 7205 und 7206). Der Kanton, der in einem Strafverfahren unentgeltliche Rechtspflege leistet, wird nicht erwähnt. Auch in der Parlamentsdebatte wurde der Kanton, der in einem Strafverfahren unentgeltliche Rechtspflege leistet, nicht als primär Leistungspflichtiger im Sinne von Art. 4 Abs. 1 OHG bezeichnet. Hingegen wurde mehrmals betont, dass die Opferhilfe dann gewährt werde, wenn die primär Leistungspflichtigen, "d.h. der Straftäter, die Straftäterin oder ihre Versicherungen nicht oder nicht ausreichend bezahlen" (Votum Ständerat Wicki, AB 2007 S 162 [Erste Sitzung des Ständerats vom 14. März 2007]; vgl. auch Votum Bundesrat Blocher, AB 2006 N 1084 [Erste Sitzung des Nationalrats vom 22. Juni 2006]). Aufgrund der Gesetzesmaterialien zu Art. 4 OHG ist somit nicht davon auszugehen, dass der Gesetzgeber die Opferhilfe als subsidiär zur unentgeltlichen Rechtspflege einstufen wollte.
Das Verhältnis des Opferhilferechts zum Institut der unentgeltlichen Rechtspflege wird in der Botschaft hingegen im Abschnitt zur Befreiung von Verfahrenskosten thematisiert. Der Bundesrat hält fest, die Opfer hätten die vom OHG vorgesehenen Kostenbeiträge für juristische Hilfe nicht nötig, soweit Art. 29 Abs. 3 BV oder die unentgeltliche Rechtspflege nach kantonalem Recht zur Anwendung gelange. Er verweist weiter auf die unter dem alten Recht ergangene, oben erwähnte Rechtsprechung zur Subsidiarität (Botschaft OHG, a.a.O., S. 7234). Der Bundesrat bezog sich hier also ausdrücklich auf die Rechtslage vor Inkrafttreten der Schweizerischen Strafprozessordnung und die damalige Kompetenzaufteilung im Bereich des Strafprozessrechts, weshalb sich daraus für die heutige Situation nichts ableiten lässt. Die Parlamentsdebatte zu Art. 30 OHG ist auch nicht aufschlussreich.
Insgesamt ergibt sich aus der historischen Auslegung der Bestimmung keine eindeutige Antwort auf die zu beantwortende Frage.

12.4 Aus systematischer Hinsicht ist zu bemerken, dass mit dem neuen OHG die Regelung in Art. 30 Abs. 3 OHG eingeführt wurde, wonach das Opfer und seine Angehörigen die Kosten für einen unentgeltlichen Rechtsbeistand nicht zurückerstatten müssen. Die unter dem alten Recht bestehende Schlechterstellung der Opfer, die unentgeltliche Rechtspflege erhielten und diese wieder zurückerstatten mussten, wenn sie zu neuem Vermögen kamen, wurde somit behoben (BGE 141 IV 262 E. 2.5; Botschaft OHG, a.a.O., S. 7234).
BGE 149 II 246 S. 253
Es spielt nunmehr keine Rolle mehr, ob das Opfer unentgeltliche Rechtspflege bezogen hat oder die Anwaltskosten unter dem Titel der längerfristigen Hilfe von der Opferhilfe übernommen wurden: es muss die staatliche Hilfe weder im ersten noch im zweiten Fall zurückerstatten. In BGE 141 IV 262 E. 3.3.3 hat das Bundesgericht überdies festgehalten, dass Art. 30 Abs. 3 OHG auch unter der neuen Strafprozessordnung gilt, und bestätigt, dass der Gesetzgeber die erwähnte Ungleichbehandlung der Opfer mit dem neuen Recht nicht wieder einführen wollte. Es stützte sich dabei insbesondere auf die in Art. 8 BV verankerte Rechtsgleichheit.
Wäre der opferhilferechtliche Anspruch weiterhin subsidiär zur unentgeltlichen Rechtspflege, wären die Opfer in sehr bescheidenen finanziellen Verhältnissen betreffend Geltendmachung des Anspruchs jedoch weiterhin schlechter gestellt als jene Opfer, die zwar nicht mittellos im Sinne von Art. 29 Abs. 3 BV sind, jedoch die Voraussetzungen für die Opferhilfe im Sinne von Art. 6 und 16 OHG erfüllen. Tatsächlich müssten erstere ihren Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege im Strafverfahren unverzüglich geltend machen, ansonsten sie ihn aufgrund der Subsidiarität verlieren würden - und dies, obwohl das Recht selbst nicht verwirkt (vgl. nicht publ. E. 10.3). Das Zeitfenster, in dem diese - finanziell sehr schlecht gestellte - Kategorie von Opfern den Anspruch auf Übernahme der Kosten durch die unentgeltliche Rechtspflege geltend machen müsste, wäre relativ kurz. Hingegen könnten die finanziell etwas besser gestellten Opfer noch lange über das Strafverfahren hinaus den Anspruch auf Übernahme der Anwaltskosten geltend machen.
In Übereinstimmung mit Art. 8 BV und der Regelung in Art. 30 Abs. 3 OHG, die auf die Gleichstellung aller Opfer abzielt, die staatliche Hilfe für das Strafverfahren beanspruchen können, müssen die Opfer auch bezüglich der Geltendmachung des Anspruchs auf staatliche Hilfe gleichgestellt werden. Die systematische Auslegung der Bestimmung spricht somit gegen eine Subsidiarität der Opferhilfegesetzgebung zur unentgeltlichen Rechtspflege.
Anzufügen bleibt, dass die Gleichstellung der Opfer, die unentgeltliche Rechtspflege beantragen, im Vergleich zu jenen, die bei der Opferhilfe einen Antrag um Übernahme der im Strafverfahren angefallenen Anwaltskosten stellen, auch bezüglich der effektiven Entschädigung gewährleistet ist. Die von der Opferhilfe zu leistende anwaltliche Entschädigung entspricht gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung grundsätzlich nämlich jenem Betrag, der in
BGE 149 II 246 S. 254
Anwendung des Tarifes über die unentgeltliche Rechtspflege zugesprochenworden wäre (BGE 131 II 121 E. 2.4.3). Bezüglich der Berechnung des Honorars ist somit unerheblich, ob das Opfer die unentgeltliche Rechtspflege beantragt oder seinen Anspruch auf Übernahme der im Strafverfahren angefallenen Anwaltskosten aus OHG geltend macht: Es erhält in beiden Fällen in der Regel die gleiche Entschädigung.

12.5 Schliesslich ist für die Ermittlung des Sinns und Zwecks der Subsidiarität der Leistungen der Opferhilfe erneut die Botschaft zum OHG heranzuziehen, wonach die Opferhilfegesetzgebung verhindern will, dass die betroffenen Personen Sozialhilfe in Anspruch nehmen müssen, wenn die primär Leistungspflichtigen (Täter, Täterin, Sozial- und Privatversicherungen) nicht oder nicht genügende Leistungen erbringen (Botschaft OHG, a.a.O., S. 7205). Die Schlechterstellung der mittellosen Opfer bezüglich der Geltendmachung des Anspruchs auf Übernahme der Anwaltskosten könnte aber genau dies zur Folge haben: Haben sie - aus irgendeinem Grund - die unentgeltliche Rechtspflege im Strafverfahren nicht beantragt, könnten sie ihren Anspruch später nicht mehr geltend machen und müssten die Anwaltskosten selbst tragen. Je nach Höhe dieser Schuld wäre das Risiko, dass diese Opfer schlussendlich Sozialhilfe in Anspruch nehmen müssen, beträchtlich.
In diesem Sinne kann auch auf den Abschnitt der Botschaft bezüglich längerfristiger Hilfe verwiesen werden: Diese dient dazu, die Folgen der Straftat zu beseitigen oder wenigstens zu mildern (Botschaft OHG, a.a.O., S. 7211). Dieser Zweck kann nicht durchwegs erreicht werden, wenn die finanziell besonders schlecht gestellten Opfer den Anspruch auf Übernahme der Anwaltskosten verlieren, sofern sie keine unentgeltliche Rechtspflege beantragt haben. Im Gegenteil hätte diese Subsidiarität zur Folge, dass die Straftat die Opfer in noch grössere finanzielle Schwierigkeiten führt. Die Subsidiarität der Opferhilfe im Verhältnis zum Institut der unentgeltlichen Rechtspflege widerspricht somit auch der teleologischen Auslegung der Bestimmung.

12.6 Zusammenfassend ergibt die Auslegung von Art. 4 Abs. 1 OHG, dass die Subsidiarität der Opferhilfe im Verhältnis zur unentgeltlichen Rechtspflege nicht greift. Ein Opfer, das Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege hat, diesen aber im Strafverfahren nicht geltend macht, kann somit auch nachträglich noch bei der Opferhilfestelle den Antrag auf Übernahme der Anwaltskosten
BGE 149 II 246 S. 255
stellen. Es wird somit diesbezüglich jenen Opfern gleichgestellt, die nicht mittellos im Sinne von Art. 29 Abs. 3 BV sind, aber die Voraussetzungen für die Opferhilfe im Sinne von Art. 6 und 16 OHG erfüllen.
Diese Präzisierung der Rechtsprechung betreffend Subsidiarität ändert nichts an der Rechtsprechung des Bundesgerichts in BGE 131 II 121 : Ein sorgfältiges Opfer sollte sich weiterhin so früh wie möglich an die Beratungsstelle wenden, damit die Frage der Übernahme der Anwaltskosten soweit möglich im Voraus geregelt werden kann. Andernfalls besteht das Risiko, dass die Opferhilfe die angefallenen Anwaltskosten a posteriori nicht umfassend übernimmt (vgl. nicht publ. E. 10.3).

13. Angewendet auf den vorliegenden Fall ergibt sich, dass der Beschwerdeführerin nicht entgegengehalten werden kann, sie habe die unentgeltliche Rechtspflege im Strafverfahren nicht beantragt. Der Anspruch der Beschwerdeführerin auf Übernahme der Anwaltskosten aus der Opferhilfegesetzgebung ist weder verwirkt noch subsidiär zur unentgeltlichen Rechtspflege. (...)

Inhalt

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Regeste: deutsch französisch italienisch

Sachverhalt

Erwägungen 5 12 13

Referenzen

BGE: 131 II 121, 121 II 209, 141 IV 262

Artikel: Art. 5 OHV, Art. 4 Abs. 1 OHG, Art. 13 OHG, Art. 13, 14 und 16 OHG mehr...